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NEU!!! Erschienen am 23.Juli2013
bei
www.neobooks.com
    






Gefährliche Rote Meile

 

Nein, Angst braucht ihr wirklich nicht zu haben, wenn ihr als Touristen zu uns kommt auf die Rote Meile in Voyeurodam. Glaubt nicht alles, was in den Zeitungen steht.

Den Touristen tun wir nichts. Die bringen uns Geld. Geld, das immer wichtiger wird, je leerer die Rote Meile wird, je weniger Gäste kommen.

 

Die Rote Meile stirbt langsam aber sicher.

 

Ich wollte allerdings nicht sterben, bei der Ausübung meiner Tätigkeit als „Inkasso-Beauftragter“ des Girlie’s, umgangssprachlich auch Kellner genannt.

 

Ich hatte Tagschicht. Die machte ich nie so gerne, denn am Tag kommen ohnehin noch weniger Leute als in der Nacht, und der Verdienst ist dementsprechend auch ungewisser.

 

Aber Freddy, der Profi-Gastronom, wollte es so.

„Wir machen ab nächste Woche Tagschicht, da ist die Strasse voll, das sehe ich jeden Tag, wenn ich herkomme!“. Nun muss man sagen, dass Freddy um 16 Uhr 30 bereits im Laden ist, wenn die Arbeit um 20 Uhr beginnt.

Freddy kann total nichts mit sich anfangen. Er kriegt einfach den Tag nicht rum. Was soll er auch zuhause? Dort kann er sein ADS nicht kurieren, ausheilen oder ihm wenigstens Befriedigung geben. Dort hat er keine Untergebenen, Mitarbeiter, Sklaven, die er schikanieren kann, er hat kein Publikum für seine lautstarken Auftritte, keine Gäste die nicht bezahlen wollen und mit denen er herumschreien könnte.

Also kommt er früh auf die Rote Meile, geht ins Kiez-Cafe in der Nähe des Ladens, ist präsent! Wird gesehen! Aha, er ist auch schon da, der Grosse Macher vom Kiez, immer da, immer wach, alle sollen ihn sehen.

 

Heute kommt er etwas später. Ausgerechnet heute, wo wir doch zum ersten Mal schon um zwei Uhr mittags aufmachen. Da hat er wohl verschlafen der Freddy! Oder das Haarspray ist ihm ausgegangen, mit dem er die blondierten Haare wahrscheinlich stundenlang in Form sprayen muss, damit die drei Haare in vier Reihen so am Kopf anliegen, dass sie die eigentlich überwiegenden, kahlen Stellen ausreichend bedecken.

 

Ein Stunde lang passiert nichts. Gelangweilt hocken die Animösen an der Bar. Kein Gast. Immer die selbe, von Freddy verordnete CD dudelt vor sich hin. Zu Ende, fängt wieder von vorne an. Wieder von vorne. 30 Lieder sind da drauf. Weisst du wie schnell 30 Lieder vorbei gehen?

 

Der Porter führt einen Gast herein. Endlich. Aber den habe ich schon mal gesehen. Er war schon mal hier, ein Ausländer, Mitte zwanzig vielleicht. Er hatte damals etwas verzehrt, auch einer Frau einen Piccolo ausgegeben oder sowas, und hatte versucht, Koks an die Hühner zu verkaufen. Er war nett und freundlich gewesen, aber irgendwie war er mir nicht ganz geheuer.

 

Er kam also herein, setzte sich an den ersten Tisch links von der Bühne und bestellte ein Bier, das ich ihm brachte. Susi Müller ging hin.

„Na, du? Dich kenne ich, du warst schon mal hier!“ sagte sie etwas gelangweilt aber immer mit einem Lächeln. Ich machte meinen Kram hinter der Bar und bemerkte zwischen durch, wie Susi jetzt an seinem Tisch sass. Na, vielleicht gibt’s nen Piccolo! Das wäre wenigstens schon mal was.

 

Die Müllerin klatscht.

Ich beeile mich zum Tisch hin zu kommen. „Was darf’s denn sein für Mickymaus?“ frage ich.

„Ja, ey, Alda, die will ein Sekt, Digger, dann gib ihr mal ein Sekt, ne?“

Na, also, ich bin da etwas misstrauisch. „Ist das ok, gleich einen Sekt, ja?“ frage ich an den jungen Mann gerichtet.

„Ja, hast du doch gehört!“ fährt mich Müllerchen an, „einen Sekt, los, hopp! Was soll denn das?“

Und der Ausländer ergänzt der Form halber: „Ey, Digger, Alda, glaubst du etwa, ich kann das nicht bezahlen oder was, Digga? Ich hab Kohle genuch, Alda!“

 

Na, denn! Da wird ja das Kassieren ein Spaziergang werden. Ich serviere den Sekt, naturlich zusammen mit dem obligatorischen Orangensaft-Karäffchen und mache die Rechnung fertig. 420 Euro sind es bisher, ich ziehe aber noch nicht zusammen. Vielleicht hat ‚Digga’ ja nochmehr Kohle und ist in Geber-Laune, das würde den Tag retten.

 

Nach einer Weile kommt die Müllerin an, zur Bar, hinter der ich gerade aufräume, nicht wirklich hastig, aber doch schnellen Schrittes. Sie ist weiss im Gesicht. Und aufgeregt, das merke ich daran, dass sie mit den Augendeckeln klimpert, mehr, als sie das sonst tut. Sie zieht mich hinter die Bar, hinten in die Ecke, fuchtelt mit ihren Händen auf Bauchhöhe herum, ganz nervös.

„Weisst du was? Ich geh da icht mehr hin...! Der Typ.... der hat... der hat seinen Pulli hochgehoben, und weisst du was ich da gesehen habe?“

Ich muss mir ein Prusten verkneifen. „Na, was hast du denn da gesehen, was DU noch nicht kennst, Müllerin?“

„Du der... der hat... ne Knarre im Gürtel!“

 

Ups!

Das hatten wir auch noch nicht!

„Was? Ne Knarre? Bist du ganz sicher? Wieso hat er dir die denn gezeigt?“

Susi: „Weil ich ihn gefragt habe, was er beruflich macht, er hat gesagt er dealt mit Koks. Und da hab ich ihn gefragt, ob das nicht gefährlich ist und ob er keine Angst hätte erwischt zu werden. Und da hat er den Pulli hochgehoben...!“

 

Gut, was mach ich jetzt?

Ich bin kein sportlicher Typ und war es auch nie. Ich bin auch keiner, der Herausforderungen um jeden Preis sucht. Aber ich bin auch nicht feige.

Meine erste Idee war, zu dem Typen hinzugehen, ihn ihn ein Gespräch zu verwickeln, mich neben ihn zu stellen und ihm im richtgen Moment von oben unter den Pulli zu greifen, da hat man mehr Kraft als einer, der sitzt.

Aber das könnte schief gehen.

Nächster Plan: ich nehme eine leere Bierkiste, gehe am Tisch vorbei und tue, als wenn ich sie nach hinten ins Lager bringe. Auf der Höhe seines Tisches angekommen haue ich ihm die Kiste mit Wucht in die Fresse und packe dann zu.

 

Der Plan gefällt mir besser.

 

Ich schicke die Müllerin wieder an den Platz neben ihm, um ihn abzulenken. Sage ihr, sie solle sich etwas weiter weg von ihm hinsetzen. Meinen Plan verrate ich ihr nicht.

Ich nehme die Kiste, mache mich auf den Weg.

Es sind nur ein paar Schritte bis zu dem Platz, wo er sitzt.

Ich habe die Kiste fest in der Hand, bereit, zuzuschlagen. Während ich gehe, berechne ich die Chancen für das Gelingen der Aktion. Er sitzt hinter dem Tisch, der gut 80 Zentimeter tief ist und die Müllerin sitzt ziemlich nahe an ihm dran. Die will ich natürlich nicht treffen.

Auf der Höhe seines Platzes angekommen, strecke ich dennoch die Kiste in der rechten Hand ein wenig mehr nach rechts, um Schwung zu haben, dann hole ich aus.

Die Kiste fliegt nach links in seine Richtung – wo ich sie mit der linken Hand eilig abfange und schnell weitergehe, hinten durch die Tür ins Getränkelager.

Scheisse.

 

Ich stelle die Kiste auf den Boden, die Tür fällt hinter mir ins Schloss. Ich nehme das Handy. Hoffentlich geht der mir jetzt nicht nach, wo ich gerade das Telefon am Ohr habe.

Drücke die Nummer der Polizeiwache um die Ecke im Telefonspeicher. Sie steht zur Vorsicht immer an erster Stelle im Telefonbuch.

 

Ich mache Meldung.

„Gehen sie ganz normal zurück an die Bar, aber halten sie sich weg von dem Mann! Und holen sie die Frau bei ihm weg, die da sitzt! Hören sie? Das ist ganz wichtig, die Frau muss da weg! Wir sind gleich da!“ sagt der Polizist am Ende der Leitung.

 

Die Polizei kennt die Gegebenheiten in unserem Laden. In allen Läden.

Ich lege auf. Hole tief Luft. Öffne die Tür. Die Anspannung steigt, das fühle ich.

Als ich zurückgehe aus dem Getränkelager in den Gastraum, führt der Koberer gerade eine Gruppe von Männern herein. Scheisse! Das passt jetzt gar nicht.

Die Männer sind in ausgelassener Stimmung, machen eine Haufen Lärm. Das irritiert mich. Ich eile auf den Türsteher zu, mache eine abwehrende Handbewegung und deute auf die Männer, aber er versteht nicht.

Einige der Männer setzen sich auf die rechte Seite der Bühne, einige auf die linke, gehen an ‚Digga’ vorbei.

„So, jetzt wollen wir mal was sehen, gib Gas!“ ruft einer von ihnen zu dem noch ahnungslosen Mädchen auf der Bühne, die lustlos eine Show beginnt.

Die wissen alle nicht, was gleich passieren könnte.

 

Der Porter guckt komisch. Er nimmt nicht, wie sonst üblich, schon einmal die Bestellungen an den Tischen auf. Hat er die Knarre gesehen? Hat der Typ sie womöglich schon in der Hand, auf meinen Rücken gerichtet?

 

Dann geht alles ganz schnell.

Ich sehe nur, wie zwei der neu angekommenen Gäste, die gerade auf der rechten Seite im Begriff waren, Platz zu nehmen, aus dem Stand über die Bühne flanken, sehe aus dem Augenwinkel, wie einer von denen, die gerade an ‚Digga’ vorbei an den dahinter liegenden Tisch gegangen sind, durch den Vorhang greift, der die beiden Tische von einander trennt, und ‚Digga’ sogleich mit dem Arm von der Seite um den Hals fasst. Einer steht jetzt auf der Bühne, hat auf einmal eine Pistole in der Hand! Von irgendwo rechts flammen zwei starke Taschenlampen auf, sie sind auf ‚Digga’ gerichtet, genau in sein Gesicht. 

 

„Polizei! Keine Bewegung! Hande auf den Tisch! Gaaanz langsam! Ich will die Hände sehen! Beide! Sofort jetzt! Hier ist die Polizei! Das ist kein Spass!“

 

Digga kann sich nicht bewegen.

Er hat Atemnot, weil der Mann hinter dem Vorhang ihn zur Seite zieht. Sechs Polizisten in zivil stehen um den Tisch herum, einer davon greift ‚Digga’ unter den Pullover, während nun zwei ihn von der Bühne aus mit gezogenen Pistolen in Schach halten.

 

Wie in Gottes Namen kommen die so schnell hierher?

Der Laden füllt sich. Noch sechs Uniformierte kommen herein, teil mit Schlagstöcken, teils mit Pfefferspray oder Pistolen im Anschlag. Insgesamt zwölf Polizisten. Immer wenn der Vorhang aufgeht, sehe ich draussen eine grosse Anzahl zuckender Blaulichter auf der Rote Meile. Mir fällt auf, dass die Streifenwagen auch entgegen der Fahrtrichtung auf der Strasse stehen.

Am Tisch klicken die Handschellen.

Da kann Digga auch nichts mehr machen!

 

Die Pistole, die sie bei ihm gefunden haben war echt.

Geladen.

Durchgeladen.

Und – entsichert.

Digga hätte nur abdrücken müssen. Wenn er denn gewollt hätte.

16 Gramm Koks haben sie bei ihm sichergestellt, ‚abgepackt in Portionen für den Strassenverkauf’, wie es später in der Anklageschrift hiess.

 

Die Müllerin hing eine halbe Stunde schluchzend an meiner Schulter, ich konnte sie kaum beruhigen.

 

Hut ab vor der Polizei!

Auch wenn es nur 200 Meter sind bis zur Wache – das war eine Meisterleistung.

 

 

So geht es aber auch nicht altäglich zu auf der Roten Meile. Es gab auch weitaus weniger brenzlige Situationen.

Wegen so einer war ich vorgeladen. Bei Kollege Blaulicht, Oberkommissar Hebestreit.

 

„Klingeling!“ macht die Tür beim Bäcker, wo ich aufgrund der Häufigkeit der Vorladungen auf dem Polizeirevier mittlerweile Stammkunde bin.

Es ist voll hier. Immer. Der Laden brummt. Ob die auch alle bei Hebestreit vorgeladen sind?

„Ja, bitte?“ fragt die Bäckerin mit einer Tonart-Mischung aus kiez-freundlich und genervt.

„Haben Sie... solche...“ ich versuche mich an Kollege Blaulichts Beschreibung zu erinnern, „...solche Baiser-Dinger, wo Schoko drauf ist?“ behelfe ich mich.

„Schoko-Baiser-Teilchen, mit Sahne gefüllt!?“ fragt die Kiez-freundliche.

„Ja, gut denn...! Drei Stück bitte!“ Zwei für Blaulicht, ich stehe freiwillig zurück

 

„Ahh, der Könich!“ empfängt mich Hebestreit unten in der Wache. „Mit Bäcker-Tüte! Das sieht gut aus! Du kriegst jetzt nämlich die nächsten drei Jährchen nichts Süsses mehr. Komm!“ Ich folge ihm durch die schon zuvor beschriebenen Gänge und Flure in seine Amtsstube. Das kann ja wieder heiter werden..

 

 

 

 

 

 

Die Aussage

 

 

 

An die Polizei

z. Hd. Herrn Hebestreit/Kripo                        

PK 1353

01854711 Voyeurodam   

 

 

 

Voyeurodam, den 8. September

 

Aktenzeichen XXX/XXXXX/XX

Hier: Zeugenaussage

 

 

Sehr geehrter Herr Hebestreit,

 

zum o.g. Tathergang möchte wie folgt schriftlich aussagen:

 

In der Nacht des 6. September, gegen 21.45 Uhr, betraten 2 junge Männer aus Ostdeutschland das Lokal Girlie’s, in dem ich an diesem Abend zusammen mit Herrn xxxxxxxx als Kellner arbeitete.

 

Einer nahm auf dem ersten Sofa an der Bühne, der zweite auf dem dahinter liegenden Sofa platz. Beide bestellten für sich Getränke, die durch zwei unserer Animierdamen serviert und sogleich kassiert wurden.

 

Dananach sezten sich die Animierdamen zu den Gästen und bald darauf bestellten die Gäste für die beiden Frauen  jeweils eine kleine Flasche Hausmarke Noblier zum Preise von jeweils € 180,-.

 

Eine Bestellung wurde von mir, die andere von Herrn xxxxxxxx aufgenommen und auch ausgeführt.

 

Bei der Aufnahme einer Bestellung läuft der Bestell-Vorgang i m m e r wie folgt ab:

Die Damen klatschen, der Kellner –in diesem Falle Herr xxxxxxxx - kommt an den Tisch um die Bestellung aufzunehmen.

Wir verwenden bei der Aufnahme der Bestellung i m m e r  folgenden Wortlaut um uns abzusichern und eine rechtmässige Bestellung zu erlangen:

 

„Laden Sie die Dame(n) ein, zu einer (bzw. mehreren) kleinen Flasche(n) Hausmarke?“ (oder ggfls. anderem gewünschtem Getränk).

 

Mit der ausdrücklichen Frage nach der Einladung ist die Kostenübernahme festgelegt und es kommt ein mündlicher Vertrag gem. BGB/HGB zustande. Gleichzeitig sagen wir, was wir bringen werden, nämlich die gewünschte Anzahl Flaschen Hausmarke Noblier.

 

Als die Gäste gehen wollten, brachte ich die Rechnungen, die sich auf jeweils € 180 beliefen.

Ich ging zunächst zum Gast in der ersten Reihe und präsentierte ihm die Rechnung. Es gab Streitigkeiten um die Höhe der Rechnung.

Nun wollte auch der Gast in der zweiten Reihe die Rechnung haben, ich gab sie ihm, ging aber gleich wieder zurück zum ersten Gast, um mit ihm weiter zu verhandeln.

 

Da sich das Gespräch in die Länge zog, setzte ich mich neben den Gast auf das Sofa. Auch der Gast hinter mir redete auf mich ein, ich drehte mich nach hinten, um ihm zu antworten. Als ich mich wieder dem ersten Gast zuwandte, sah ich aus dem Auigenwinkel, wie der hintere Gast aufstand und die Hausmarke-Flasche, die vor ihm stand, ergriff und drohend aufhob.

Er fasste dabei die Flasche am Hals, aber mit nach unten gerichtetem Daumen, also nicht so, als wenn er daraus trinken wolle. Ausserdem ist es unwahrscheinlich, dass er aus dieser Flasche trinken wollte, denn daneben stand seine Bierflasche.

 

Ich befürchtete in diesem Moment, dass er die Flasche benutzen wollte, um sie mir auf den Kopf zu schlagen, seine Körperhaltung und die Tatsache, dass er dabei aufstand, deuteten darauf hin.

 

Ich sprang also auf und nahm ihm die Flasche mit einem schnellen Griff aus der Hand, so dass ihm keine Zeit zur Gegenwehr blieb. Der Mann schrie mich an und schubste mich zurück. Er sagte, beide hätten nicht genug Geld dabei um die Rechnung zu bezahlen, und sie würden sie auch nicht bezahlen.

 

Ich teilte ihm mit, dass ich die Polizei rufen würde und tat das auch.

Bei den Polizeibeamten erstattete ich Anzeige wegen Betruges und wegen Bedrohung weil ich die Situation mit der Flasche, verbunden mit dem recht groben Vorgehen besonders des Gastes aus der zweiten Reihe, als Gefahr und Bedrohung einschätzte.

 

 

Voyeurodam, den 8. September      Paul König

 

Nachtrag zum Aktenzeichen XXX/XXXXX/XX

Hier: Zeugenaussage

 

Ich meine am Tattag verstanden zu haben, dass die Gäste bzw. der betreffende Gast Herr xxx xxxxxxx  Anzeige gegen mich erstattet hat.

Sollte dies der Fall sein so erhalte ich die bei den Polizeibeamten gemachte Anzeige aufrecht.

Ansonsten ziehe ich Anzeige wegen Bedrohung zurück, da mir persönlich kein weiterer Schaden entstanden ist.

 

Die xxxxxxxxGmbH, vertr. durch den Geschäftsführer xxxxx xxxxxxxxx, Betreiber des Lokals Girlie’s wird versuchen, den offenen Rechnungsbetrag auf dem Zivilwege zu erstreiten, die Aufrechterhaltung einer Betrugsanzeige und dem damit verbundenen  Gerichtsverfahren wegen Betruges sehen wir im Nachhinein nicht als sinnvoll an. 

 

Voyeurodam, den 16. September              Paul König

 

 

 

 

 

Mit der dringenden Empfehlung der Orangen-Mandarinen-Creme-Schnittchen bin ich gerade noch einmal an den zuvor von Kollege Blaulicht zugesicherten drei Jahren Dunkelhaft vorbeigeschrappt, weil seines Befindens nach mir in diesem Fall wirklich keine Schuld in die Schuhe zu schieben wäre.

 

Aber er würde alles sammeln, versicherte er mir, und eines Tages, ja, eines Tages würde es reichen für eine Verurteilung, bei der ich meine neugeborenen Enkelkinder erst im Greisenalter kennen lernen würde.

Ich hab ja noch nicht mal mit den Kindern angefangen, Hebestreit.

Wieder empfängt meine Hemdtasche unaufgefordert den obligatorischen Fünfer, obwohl die drei Teilchen acht Euro vierzig gekostet haben.

 

Na gut, dafur brauch ich nicht in den Knast.

 

 

Bulgarisch für Anfänger

oder - цорап, царшаф, цадьр (Tschorap, Tscharschaf, Tschadir)

Warum Mädchen aus Osteuropa auf die Rote Meile kommen

 

Wenn ein kleines Mädchen so richtig zum knuddeln ist, süss und frech und lieb und so, dann sagen manche, die einen Sinn für lustige Wörter und Wortspielereien haben, zum Beispiel “Schnullerbacke“ zu so einer.

Die deutsche Sprache hält hierfür ein besonders reichhaltiges Wortsortiment bereit.

Die bulgarische Sprache wohl nicht so.

 

“Sunny, what means ‚Schnuller’ in your language?” fragte ich Sunny, kurz nachdem ich sie kennen gelernt hatte, und machte eine Handbewegung, als wenn ich einen Schnuller am Zeigefinger aus dem Mund ziehe und wieder rein stecke.

“You know… Schnuller! For little kids…!”

“Oh,” sagte Sunny, “biberon!”

Nun das ist einfach zu merken, im französischen heisst es das selbe.

 

“Und was ist das?” ich zog mit Daumen und Zeigefinger an meiner Wange.

“Ehh… busa…!?” antwortet sie irritiert.

 

“Ok, so from now on you are biberon-busa! Schnullerbacke!” Ich hatte erwartet, dass sie lacht, kichert oder wenigstens grinst. Sie schaute mich etwas verständnislos an.

“Biberon-busa? What is that?”

 

Mühsam, weil Sunny damals noch recht wenig englisch sprach, versuchte ich ihr zu erklären, was ich meinte. Meinen Vergleich mit einem niedlichen kleinen Kind fand sie wohl eher nicht so toll. Seit dem sagte sie zu mir immer Biberon-Busa, vielleicht um mich zu ärgern, aber irgendwann hatte sie diese Liebkosung wohl doch richtig verstanden und akzeptiert.

Ich mochte Sunny sofort.

 

Nun steht sie in meinem Zimmer vor mir, mit einem nackten Fuss, am anderen ein schwarzes Söckchen.

“Where is my….?” fragt sie mit harten, bulgarischem Akzent zu mir und rollt das ‘R’ dabei. Sie zeigt mit dem Finger auf ihre Füsse.

“Ehm… feet?” frage ich?

“не (né), my... this one…” versucht sie es erneut und fuchtelt jetzt wie wild mit ihrem Zeigefinger in Richtung ihrer Füsse und muss lachen. Sie hat eine helle, lustige, ansteckende Lache die von innen heraus kommt und sehr natürlich klingt, ich muss auch lachen.

“My….” sie hebt den linken Fuss mit der Socke, steht nun auf einem Bein und fängt an zu hüpfen, weil sie beinahe das Gleichgewicht verliert. Sie zieht an ihrer Socke, “my… цорап – tschorap!

“Ah, your sock!” jetzt verstehe ich. “Ich habe eine im Badezimmer liegen sehen,” sage ich ihr auf englisch, “das ist jedenfalls nicht meine.”

Wieder ein bulgarisches Wort gelernt. Tschorap ist eine Socke.

 

Nein, Sunny ist nicht unordentlich, nur weil eine ihrer Socken im Badezimmer liegt. Im Gegenteil! Sie ist der ordentlichste, sauberste und gepflegteste bulgarische Mensch, den ich mir vorstellen kann, wenn ich mir Bulgaren überhaupt jemals so hätte vorstellen können.

Man hat halt so seine Vorurteile.

Das schöne an der Roten Meile ist, dass du jede Menge Leute aus aller Herren Länder kennenlernst. Kennenlernen kannst, wenn du denn willst. Ich war noch nie ein Patriot, aber ich habe mich auch nicht darum gerissen, unbedingt Ausländer – oder Bürger mit Migrationshintergrund, wie das jetzt ja neuerdings rechtlich richtig heisst, kennen zu lernen.

Bei Sunny war das anders.

 

Irgendwann war sie im Girlie’s aufgetaucht, das ist nun auch schon wieder fünf Jahre her. Sie kam zusammen mit einem anderen Mädchen; diese andere hatte etwas simples, leichtes, zugängliches, mitgehendes – kurz, was nuttiges.

Die andere mochte ich nicht. Sie war auch nur ein paar Tage da, Sunny hat mir viel später mal erzählt, dass ihre Freundin Tabledance schnell zu langweilig fand. Sie wollte was “tolles” erleben, hat sich einem Anaboliker an die aufgepumpten Oberarme geschmissen und war verliebt wie ein pubertierender Teeny.

 

In dem neumodischen Internet-Klatschmagazin, dass “Fratzenheft” heisst oder so ähnlich, waren danach nur noch Fotos von ihr und ihrem glatzköpfigen, stiernackigen “Darling”zu sehen, in den wildesten Kussszenen, von denen jeder Regisseur eines Liebesfilmes nur träumt. Die Hose von Glatze war auf diesen Fotos irgendwo vorne sehr plakativ ausgebeult, ich weiss nicht ob das am Camerawinkel oder an besagten Anabolika lag. Vielleicht auch an dem Mädchen. Ein typischer Typ Nuttchen.

 

Sunny ist da ganz anders.

Ein wirklich hübsches Mädchen mit sehr feinen, fast edlen Gesichtszügen, ganz langen, schwarzen, dicken Haaren, glatt, bis zum Po. Nicht so sehr gross aber mit den richtigen Proportionen. Sie ist natürlich hübsch, nicht aufgemotzt oder geschminkt. Ganz normal.

Ich mochte sie sofort. Sagte ich das schon?

 

Sunny geht ins Badezimmer auf der Suche nach Tschorap Nummer 2. Sie hat gerade gewaschen, in ihrer blauen Plastikschüssel, die ihre ist, darauf legt sie grossen Wert. Sie mag nicht, wenn andere ihre Sachen benutzen. Auch ich darf das nicht. Sunny wäscht täglich irgendwas, und sich selber unter der Dusche sogar zweimal am Tag. Lange Haare wollen gepflegt werden, mit viel Wasser viel waschen, viel Shampoo, mit viel Wasser wieder viel Shampoo auswaschen. Dann fönen. Mindestens eine halbe Stunde lang.

 

Seit sie bei mir eingezogen war, stiegen Strom-, Wasser- und Heizkosten in meinem ehemaligen Junggesellen-Haushalt in Dimensionen, in denen eigentlich ein mittleres Produktionsunternehmen angesiedelt ist.

 

Wie es dazu kam?

 

Es war nicht so, dass Sunny auf unserer gemeinsamen Arbeit im Girlie’s ganz nötig den Kontakt mit mir suchte. Aber ich habe mich von Anfang an um sie und ihre Belange gekümmert.

Ein Mädchen aus Osteuropa, auch wenn Bulgarien nun zur EU gehört, muss einen Haufen Papierkram erledigen, bevor sie in Deutschland arbeiten darf. Schwierig, wenn man kein Deutsch spricht.

Sie muss irgendwo angemeldet sein. Dazu muss sie eine Bleibe haben. Die Hotels der Roten Meile sind darauf vorbereitet und bieten die Möglichkeit zur Anmeldung, dafür kostet dann ein 10 Quadratmeter-Zimmerchen mit Toilette und Dusche - gemäss dem teils immer noch aktuellen Vorkriegs-Standard auf dem Gang - auch 200Euro – in der Woche!

 

Ausserdem erforderlich –jedenfalls momentan noch- ist eine Arbeitserlaubnis.

Letztere ist der Knackpunkt, denn unsere liberale Bundesregierung, die den deutschen Multi-Kulti-Gedanken angeblich massiv unterstützt, nimmt erst einmal nur deutsche Arbeitskräfte für deutsche Betriebe. Erst wenn es gar nicht anders geht und kein Deutscher die angebotene Arbeit machen will, dann darf Sunny aus Bulgaria den Job kriegen.

 

Es ist alles eine Sache der richtigen, ausführlichen, schriftlichen Darstellung der Situation, dass eine Mitarbeiterin ausgerechnet aus Bulgarien für unseren Betrieb existenziell wichtig ist, weil wir ja ach so viele bulgarische Gäste haben.

Ausserdem ist es eine Sache des Telefonflirtens mit der Angestellten, die ein kleiner König ihres Reiches “Zentralstelle für die Anstellung von Ausländischen Beschäftigten” ist und einem gehörigen Mass an ‘Bitte, Bitte!’, gemischt mit einer guten Portion Überredungskunst.

 

“In Bulgaria ist sowas einfacher,” hatte Sunny gesagt, “da gibt man 100 Lewa (= 50 Euro) Bakschisch und hat egal welche Genehmigung!”

 

Auf ungefähr diese Art hatte Sunny auch ihren Führerschein gemacht. Darüber später mehr.

 

Durch all diese Formalitäten musste sich Sunny zwangsläufig mit mir auseinander setzen und so sprachen wir immer öfter auch über private Dinge. Ganz so einfach war das anfangs nicht, wegen der erwähnten Englisch-Schwäche, aber mit Händen und Füssen ging es sehr bald besser.

Meine Biberon-Busa ging immer zum skypen in ein Internet-Café, dass einem türkischen Klan gehörte. Alle Internet-Café’s auf dem Kiez gehören türkischen Klans.

Die Söhne Mohammeds waren wohl recht interessiert an der hübschen Sunny, die wiederum aber gar nicht an denen und so ergab es sich, dass ich ihr anbot, ihre Internet-Aktivitäten bei mir durchzuführen, der ich sowieso auf dem Kiez und in der Nähe ihres Hotels wohnte.

 

Sunny fühle sich mehr und mehr wohl bei mir, und nachdem sie anfangs brav fragte, ob sie wirklich auf meine Toilette gehen düfte und ob sie einen Kaffee haben dürfte, den sie auch bezahlen wolle, hatte ich ihr endlich nachhaltig klarmachen können, dass sie alles tun und sich alles nehmen durfte, was sie wollte – ohne immer zu fragen.

Sie war sehr gut erzogen.

Wieder eine Eigenschaft, die nicht erwartet hatte bei ihrer Herkunft aus einem Land, in dem nach meiner Ansicht nur Gewalt, Kriminalität und Rowdytum herrschten.

 

Ich hatte ihr mehrfach angeboten, dass sie auch bei mir wohnen könne, ich würde von meinen zwei Zimmern gern eines abgeben, sogar kostenlos. Vergebens. Sie lehnte immer dankend ab.

Bis zu den Tag, als es mittags gegen vier Uhr an der Haustür klingelte.

 

Sunny ächzte die Treppe hinauf, beladen mit einem Riesenkoffer und einem Haufen Plastiktüten mit bulgarischen Aufschriften.

“Wenn dein Angebot noch gilt, würde ich doch gerne bei dir wohnen!” schnaufte sie ausser Atem auf dem Absatz der Treppe.

Mein Angebot galt noch.

 

Irgendwelche Typen hatten sie auf dem Weg von der Arbeit zu ihrem Hotel verfolgt, andere Typen klopften nachts an ihre Zimmertür, andere wollten unbedingt mit ihr unter die Dusche, die fern von ihrem Zimmer auf dem Gang angesiedelt war, über den sie notgedrungen zurück musste in ihr kleines Reich, vorbei an den dunklen, triebgesteuerten Gestalten.

Das war zuviel für Sunny. Sie weinte erst einmal heftig und lange. So hatte sie sich Deutschland nicht vorgestellt.

Denn wie auch ich eine bestimmte, nicht so tolle Vorstellung von ihrer Heimat hatte, dachte Sunny, Deutschland wäre das gelobte Land.

 

Gemeinsam räumten wir meine Habe aus dem Wohnzimmer in mein Schlafzimmer und richteten ihr mit allerlei Möbeln, die ich hatte, ihr neues Zuhause ein.

 

“I need … царшаф (Tscharschaf)! You have tscharschaf for me?” Sie zog mit beiden Händen vor ihrem Körper etwas von unten nach oben, immer wieder.

“A trouser...?” riet ich. “...a skirt?”

“Njé, tscharschaf…!” Sie dachte einen Moment nach, legte sich dann auf die Schlafcouch, drehte sich zur Seite und tat, als ob sie schlief. Dabei kuschelte sie sich in eine imaginäre Bettdecke! Ah, Bettdecke! Problem gelöst und wieder ein Wort gelernt. Wobei das gesuchte Wort eher ein Bettbezug ist, um genau zu sein.

 

Und um das spannende Rätsel über das letzte Wort – Tschadir- nun endlich auch aufzulösen – das ist ein Regenschirm, das nächste, was Sunny brauchte, um trocken durch den allgegenwärtigen Voyeurodamer Dauerregen zu kommen.

 

Etwas über vier Jahre haben wir zusammen in meiner Wohnung gewohnt.

Ich bin eigentlich überhaupt kein Zusammenwohn-Typ, noch weniger der für eine strukturierte Wohngemeinschaft. Jedenfalls dachte ich das. Mit Sunny habe ich mich in der ganzen Zeit nie gestritten. Vielleicht liegt das auch daran, dass sie im selben Sternzeichen geboren ist wie ich, und nur einen Tag nach mir Geburtstag hat. Wir waren so gleich wie Zwillinge, dachten und taten immer dasselbe. Nur das sie 25 Jahre jünger war als ich. Das störte aber schon bald nicht mehr. Sunny wusste, das  sie mir vertrauen konnte, dass ich nichts von ihr wollte und wenn überhaupt, dann nur etwas gutes für sie.

 

Wir haben viel zusammen unternommen und ich war stets bemüht, dass sie sich wohl fühlte bei “uns” zuhause.

Biberon-Busa sparte jeden Cent, schickte das meiste zu ihrer Familie in Bulgarien, die das Geld wohl dringend brauchte, baute damit ihr Elternhaus um und renovierte es. Sie gab kaum etwas für sich aus.

Beladen mit Elektro-Kleingeräten wie drei XXL-Fernsehern für Maiko (Mama), Papa und Oma, Spülmaschine, Toastern, Föns und diversen anderen Küchengeräten fuhren wir mit meinem alten Kombi ein paar Mal nach Holland, wo ihre Schwester im Exil lebte, auch der Arbeit wegen.

Von dort fuhren beide mit dem Freund der Schwester in einem Kleinbus, der seine maximale Zuladung bestimmt um das zweifache überschritten hatte, in die Heimat in Urlaub. Nicht dass es in Bulgarien all diese Geräte nicht geben würde, aber sie seien sehr teuer, sagte Sunny.

 

Bulgarien ist ein traumhaft schönes Land und auch der kleine Ort, in dem Sunny lebte und von dem sie mir Filme und Fotos zeigte, war ebenfalls ganz anders, als ich mir Bulgarien vorgestellt hatte. Nicht dreckig, nicht mit Eselskarren und auch nicht mit unverputzten Häusern. Es sieht dort eigentlich aus wie in der Provence oder in Süditalien.

 

Apropos Eselskarren – doch, einen gab es dort zumindest bis vor kurzem noch.

Und der hat mit Sunnys Führerschein zu tun.

 

Auf einem der zahlreichen Fotos, die sie mir nach ihrem Aufenthalten bei Maiko und Papa zeigte, war ein Fahrzeug zu sehen, dass ich vorher noch nicht kannte. Irgend ein russisches Modell, das im Vorgarten von Sunny’s Elternhaus stand und sich auf keinem der Bilder im Laufe der Jahre, in denen die Fotos aufgenommen waren, auch nur um einen Millimeter von seinem Platz bewegt zu haben schien.

Darauf sprach ich Sunny an.

Es wäre das Auto ihres Vaters, oder das, was nach langjährigen, periodisch-wöchentlichen Reparaturen noch davon übrig wäre. Es sei 53 Jahre alt.

Ups!

 

Und sogleich hatte Biberon-Busa die Idee: “We buy a very good german car for Papa!” Na, denn los! Seit Sunny von bisher ungekannten Einrichtungen wie dem TÜV gehört hatte und ich ihr ausführlich erklärt hatte, was der macht und dass es nicht egal ist, ob die Bremsen an einem Auto funktionieren oder nicht, war sie ganz begeistert von dieser Institution.

 

Sie suchte das Internet ab und hatte sehr schnell begriffen, worauf sie achten musste. Auch Worte wie Vorbesitzer oder Unfallschaden konnte sie bald im schwierigen deutschen Text selbstständig finden und interpretieren. Sunny war ein sehr helles Köpfchen.

 

Die Wahl fiel auf einen VW Passat, Kombi, in weiss. Für schlappe 800 Euro war der zu kriegen, wohl schon etwas älter aber mit 2 Jahren TÜV. Wir riefen beim Verkäufer an und vereinbarten, zwei Tage später hinzufahren und ihn uns anzusehen, weil ich vorher keine Zeit hatte.

 

Ich brauchte nicht mehr mit.

Während ich unter der Dusche stand, hatte Sunny sich angezogen, war aus dem Haus gegangen und zwei Stunden später stand der Passat vor der Tür. Für 400 Euro gekauft.

“I dealed with this man, I’m Bulgarian, and I know how to deal!” warf sich Sunny in die Brust. Sie hatte den armen Mann solange Geschichten vom armen bulgarischen Bauernmädchen erzählt, bis er den Wagen weit unter Preis herausgerückt hatte.

 

“Der hat aber vorne ne ziemliche Beule!” stellte ich bei meinem Rundgang ums Auto fest. “Da! Und Schrammen an der Beifahrerseite!” Die stolze Feilscherin schaute verlegen zu Boden.

“Tja, ähhh,” kam jetzt gedehnt, und ich konnte aus den Worten die mir bekannt vorkamen in ihrem englisch-deutsch-bulgarischen Sprachwirrwarr Begriffe ausmachen wie Camión, corner of street, parken, die mich darauf schliessen liessen, dass sie es nicht ganz um die Ecke geschafft hatte, wo wohl ein Lastwagen stand.

“Aber es war niemand dringesessen,” versicherte sie mir nachdrücklich, „da bin ich dann weitergefahren!” 

Meinen Einwand, dass man das vielleicht in Bulgarien so mache, aber nicht in Deutschland, verwarf sie mit einer abwertenden Handbewegung.

“Ich denke, in Deutschland sind alle versichert?” entgegnete sie. Ob sie eigentlich einen Führerschein habe, wollte ich wissen. Sie zeigte mir stolz ein europäisch-vereinheitlichtes rosa Plastikkärtchen mit darauf einem Haufen kyrillischer Schriftzeichen, das auch eine U-Bahn-Jahreskarte hätte sein können. Zumindest war ihr hübsches Konterfei darauf zu sehen.

 

Einen Führerschein in Bulgarien zu machen, dauerte lange, sehr lange sogar!, sagte mir Sunny, eine ganzen Vormittag hätte ihr der Prüfer das Auto erklärt, sowie die wichtigsten Verkehrszeichen. Sogar eine halbe Stunde fahren hätte sie müssen. Sie hatte dafür 600 Lewa, also 300 Euro bezahlt, eigentlich wären nur 300 Lewa nötig gewesen, aber dann hätte der Führerscheintest eine ganze Woche gedauert. Das war natürlich viel zu lange.

 

So geht das mit dem Bakschisch.

Und diese Fahrerlaubnis ist dann in ganz Europa gültig.

 

Eine Woche später nahm Sunny Urlaub und brachte das Auto nach Hause.

“Wie lange fährt man dorthin?” wollte ich wissen. “Zwei Tage, vielleicht etwas weniger.“

Es ist weit nach Bulgarien. Aber es ist schön dort.

 

Am Abend klingelte das Handy. Meine Mitbewohnerin war dran. Alleine zu fahren hatte sie sich dann doch nicht zugetraut, ein Bekannter der in der Nähe ihrer Heimatstadt wohnte und ebenfalls nach Bulgarien wollte, hatte sich bereit erklärt zu fahren. Als ich den gesehen hatte, kamen all meine Vorurteile jäh wieder hoch. Ich hatte ein ganz ungutes Gefühl, sie mit diesem Typen alleine in einem Auto in die weite Welt hinaus fahren zu lassen, der genau das verkörperte, was man landläufig als voreingenommener Deutscher von einem Bulgaren denkt.

 

Aber es war nicht so, wie ich befürchtet hatte.

Sunny wollte nur wissen, ob sie auf dem richtigen Weg wäre, ich solle doch mal in Internet nachschauen. Der schmierige Geselle würde die deutschen Städte nicht kennen und wüsste nicht, wie sie sich orientieren müssten. Sunny erzählte mir von Richtungsschildern, die sie auf dem Weg sah. Auf einem stand “Wien, 30 km”, das war nicht wirklich in Deutschland, wie ich noch aus der Schule wusste, auf dem nächsten “Richtung Bratislava”.

 

Ich bin nun nicht der Europa-Experte, wusste aber – da stimmt was nicht!

Ganze vier Tage und Nächte waren Sunny und der Halunke durch halb Europa unterwegs, bis sie endlich zuhause war.

Sie schlief zwei Tage am Stück und berichtete mir dann, dass der Knabe, der sie gefahren hatte, nicht nur mit deutschen Schildern nichts anfangen konnte, sondern mit Schildern im allgemeinen nicht. Sunny hatte zwischendurch im Auto geschlafen ohne zu wissen, das Mister Bulgaria am Steuer nach dem Stand von Sonne und Mond navigierte – er konnte nicht lesen, weder deutsche Schilder noch bulgarische – er war Analphabet.

Das hätte er vielleicht vorher erwähnen sollen.

 

Da er aber in einer anderen Stadt als Sunny wohnte, musste sie den Rest der Strecke nach Hause, ungefähr 50 Kilometer, alleine bewältigen.

Hat auch prima geklappt, sagte sie mir, bis auf die Sache mit dem Bus.

 

“Es war eine schmale Landstrasse, unbefestigt, und vor mir war ein grosser Bus. Der fuhr so langsam und ich war so müde und wollte nach Hause. Da habe ich den Bus in einem geeigneten Moment überholt. Ich habe sogar geblinkt, wie du es mir gesagt hast. Und auf einmal kam ein Auto um die Ecke, genau auf mich zu!” berichtete sie. “Ich war zum Glück schon am Bus vorbei und musste ganz haarscharf vor dem Bus einscheren. Da erst hab ich ihn gesehen – den Eselskarren, der davor fuhr!”

Sie hatte scharf gebremst, der Bus auch. Sie hatte den Eselskarren nicht einmal gestreift, beschwor sie, aber der habe samt dem alten Mütterchen auf dem Kutschbock einen Riesen-Satz gemacht und sei in den Graben neben der Strasse gefahren, habe sich überschlagen und sei auf der Seite liegen gebleiben. Auch dass man nicht einfach weiterfährt, wenn man etwas angestellt hat, hatte sich Biberon-Busa gemerkt. Sie war artig ausgestiegen und sei zu der alten Frau gegangen. Meine Nackenhaare standen senkrecht, ein Schauer nach dem anderen lief mir über den Rücken, als sie erzählte.

“Und was ist passiert?” drängelte ich.

“Nichts, alles gut,” sagte Sunny beruhigend, “der Karren ist noch heil gewesen und Mütterchen war unverletzt. Nur…”, sie druckste herum. “naja, also der Esel hat’s nicht überlebt.”

Der hatte zwar keine Schramme, war aber wohl schon steinalt und hatte einfach einen Herzschlag bekommen.

Sunny hatte dem Mütterchen 100 Lewa in die Hand gedrückt und damit deren Wut und Ärger über den Verlust des bockigen Zugtieres in helle Freude verwandelt.

 

Bakschisch.

Das ist Bulgaria.

 

 

Meistens flog meine Mitbewohnerin mit dem Flugzeug in ihrem wohlverdienten Heimaturlaub und nahm immer immer genau etwas weniger als die vom Zoll erlaubten 10.000 Euro in ihrem Handgepäck mit sich. Das tat sie viele Male.

Immer habe ich still und leise mehr als eine Träne am Flughafen zerdrückt in der Befürchtung, dass sie vielleicht nie wieder käme, denn das liess sie immer offen.

 

Immer kam sie zurück.

 

Und irgendwann nicht mehr.

 

Ich wünsche dir alles Liebe und Gute für dein Leben, kleine Biberon-Busa, die fast 5 Jahre mit dir waren meistens lustig und immer sehr schön.

 

Ich werde dich nie vergessen.

 

Die Razzia

 

Ein ausnahmsweise recht belebter Abend am Wochenende, es ist Freitag, kurz vor Weihnachten. Die Gäste, die ohnehin nur noch spärlich kommen, müssen in der Vorweihnachtszeit am ‚Wurmfortsatz des Harnkanals’ reingezogen werden, sonst kommt niemand, wie der Porter Bernd genervt zu berichten weiss. Trotzdem läuft es heute mit der legalisierten Wegelagerei recht gut.

 

Bernd ist viele Jahre lang zur See gefahren, nach Südamerika. Er erzählt immer wilde Geschichten von Liebesabenteuern, die er in seiner Jugend dort erlebt hätte, mit Frauen die so schwarz gewesen wären, dass sie noch im dunklen Keller Schatten geworfen hätten.

 

Die Rote Meile hat viele Sagen und Mythen. Bernd ist 78 Jahre alt. Ja, er arbeitet immer noch. Er erfreut sich bester Gesundheit und steht die ganze Nacht über vor dem Laden, ob in der Sommerhitze oder im Winter in der Eiseskälte, die seines Dafürhaltens der Erderwärmung zu danken ist. Bernd hat mmer gut gelebt, nie was zurück gelegt und bekommt nun die Rechnung. Zum Glück ist er gesundheitlich in der Lage, noch arbeiten zu können. Von der staatlich verarbreichten Grundsicherung kann niemand leben.

 

Gerade jetzt im Winter ist es schwer, sich mit dem Glücksrittertum über Wasser zu halten. So erzählt auch ein anderer Koberer-Kollege, dass er froh ist, immer in den Sparclub seiner Stammkneipe einzuzahlen. Dort hätte er jetzt 3000 Euro, die für die drei harten Wintermonate von Mitte Dezember bis Mitte März reichen müssten.

 

Wir nennen es Glücksrittertum – Kollege Blaulicht und seine ganze Kompanie haben da eine etwas andere Auffassung. Sie sind neuerdings auf die Idde gekommen, dass wir alle, die wir hier arbeiten, zusammengenommen eine sogenannte „Kriminelle Vereinigung“ bilden würden. Dies auf fundierte Hinweise zu überprüfen, haben sich Hebestreit und seine Gefolgen auf die Fahne geschrieben.

 

Dazu die folgende Erläuterung:

 

Du kennst das Problem vielleicht: das Geld ist gerade einmal wieder knapp, du hast eine kleine Reise mit dem Auto vor, der dämliche Tank ist natürlich wieder fast leer, und feindseelig lächelt dich die rote Lampe am Armaturenbrett an und weist weist dezent darauf hin, dass die Fahrt erst einmal an die nächste Zapfsäule geht.

Wenn du dein Auto dann  vollgetankt hast und zur Kasse gehst, erfährst du ganz nebenbei, dass der Sprit soeben wieder mal sieben Cent teurer geworden ist.

 

Das ist dir zuviel! Du hast eine Reise vor, die kostet mehr Geld als nur eine Tankfüllung voll. Du schaust in dein Portemonnaie aus Zwiebelleder und dir kommen die Tränen.Wenn du das jetzt bezahlen musst, ist die Reisekasse futsch. Aber – was tun? Der Sprit ist drin im Tank, du hast zuvor nicht auf die an jeder Tankstelle aushängenden und abends zumeist sogar noch beleuchteten Preistafeln gesehen, die zugegebener Massen mehrmals am Tag ihre Aufschrift ändern können. Also – wer ist Schuld ausser den preistreibenden Mineralölgesellschaften und dem gierigen Finanzamt?

DU!

Also musst du zahlen, oder nicht? Weil es in den Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland, sowie in den meisten europäischen Staaten halt so geregelt ist, dass der Kunde, der etwas kaufen oder bestellen will, sich vorher nach dem Preis erkundigen muss, weil es hinterher zu spät ist. Es ist Vorschrift, dass dieser auch irgendwo steht, wo der Käufer ihn findet. Notfalls ist der Kaufende gehalten, jemanden vom Personal nach den Preisen und Modalitäten zu fragen, wenn er sich nicht zurecht findet.

Wenn du bei Penny den Preis für den Kasten Bier nicht findest, fragst du ja auch, oder?

 

So ähnlich wie vor beschrieben ist es auch in einem Cabaret. Wenn du etwas bestellst musst du zuvor in die Karte schauen. Und unsere Karten wechseln nicht mehrmals täglich die Preise – wir haben sie schon seit Jahren mit unveränderten, „ortsüblichen“ Preisen, so jedenfalls sagt Bernd, wenn er, wie jetzt gerade, Gäste hereinfährt, die sich nach den Kosten für das Bier erkundigen.

„Ortsübliche Preise“ ist nicht einmal gelogen – alle Läden hier auf dem Kiez haben diese total überzogenen Preise. Bei uns ist das Bier allerdings am teuersten – es kostet laut Karte acht Euro, wenn man den Koberer zuvor fragt, bietet der auch schon einmal den Happy-Hour-Rabatt von 50 Prozent an.

 

Die beiden Männer setzen sich hin, ich bringe also zwei Bier, an Bernd’s lapidarer Aussage, die alles und nichts bedeutet, hab ich erkannt, dass die Gäste nicht über den Preis verhandelt haben. Es sind also zehn Euro fällig, die kassiere ich besser erst nachher, sonst kommen die beiden noch auf die Idee zu fragen, was denn etwaige Getränke für Fräulein Müller und Salina kosten würden, die gerade ihre Dauer-Handy-Session auf der Internet-Platform „Fratzenheft“ aprupt unterbrechen und schon geldgierig zum Tisch mit den neuen Gästen eilen. Es gibt im Leben der beiden nur eine Sache, die wichtiger ist als das Fratzenheft – Kohle! Die internettauglichen Funkfernsprechgeräte mit dem Logo einer angesabbelten Frucht darauf nehmen sie aber vorsichtshalber mit an den Tisch – könnte ja langweilig werden.

 

Die Müllerin und Salina sind die besten bei uns im Laden. Sie machen eigentlich den Umsatz, die anderen sind nur Beiwerk. Obwohl man von Animieren im eigentlichen, althergebrachten Sinne bei den beiden nicht reden kann. Es gibt auf der Roten Meile noch Frauen, die das sehr wohl können. Die sind jetzt in den 40gern, 50gern und stecken noch so manches hübsche, knackige Mädel erbarmungsos in den Sack.

 

Animieren fängt da an, wo der gast ‚nein’ sagt. So habe ich es noch gelernt.

 

Da muss man schon mal zutraulich werden können, näher rücken, Versprechnungen machen, Illusionen wecken. Männer sind triebgesteuert. Irgendwann ist es egal, ob ein rassiger Schoko-Crossie auf dem Schoss sitzt oder eine ältere Dame aus Polen, deren noch recht ansehliche Formen mehr durch geschicktes Schnüren von Miedern als die Kraft der körpereigenen Muskulatur zusammengehalten werden.

 

Aber was hilfts. Salina und Müllerchen sind die einzigen, die dam Alten noch die Stange halten – man muss nehmen, was man kriegen kann.

 

Das war nicht immer so, aber dank Freddy’s Geschick, mit Menschen umzugehen, sind die meisten abgehauen.

Man kann ein paar mal brüllen: ‚Wenn dir das hier alles nicht passt, kannst du ja gehen!’ Er ist geistig auch gar nicht in der Lage ein Problem zu erläutern, gar zu diskutieren. Sein ADS sagt ihm: ich bin der Herrscher, Widerrede oder andere Meinungen sind eine grobe Beleidigung des Gesetzes. Und das Gesetz bin ich!

 

Nach dem zweiten oder dritten Mal Brüllen denkt man ernsthaft drüber nach, auf Freddy Angebot mir dem Jobwechsel einzugehen.

Nach dem vierten und fünften Mal schaut man sich schon mal nach einem neuen Job um. Nach dem sechsten oder siebten Mal ist man dann ganz einfach weg.

Kellner, Koberer und Animierfrauen werden überall auf der Roten Meile gesucht. Nicht nur bei dem irren Freddy.

Die Zeit, die seit dem ersten Brüllen bis zum siebten vergeht, kann durchaus die selbe Länge haben wie eine Woche. Kann auch schon mal ein Tag sein.

Freddy ist ein Arschloch.

 

Da, die Müllerin klatscht schon. Energisch, heftig, laut.

‚Hier bin ich, ich will was bestellen, warum bist du nicht schon längst da, Kellner?’ So hört sich ihr Klastchen an.

Ich eile zum Tisch.

„Ja bitte?“ frage ich höflich, an den Gast gewandt. Die Bestellung darf ich nur vom Gast aufnehmen, so schreibt es das überwachende Ordnungsamt vor.

„Tja, ich... ääh...“ er weist mit der Hand etwas hilflos auf die schöne Müllerin, als nun auch Salina klatscht. Nicht ganz so laut, dafür aber direkt neben meinem Ohr, obwohl ich neben ihr stehe.

„Ich weiss nicht, was wolltest du noch...?“ fragte Susi Müller’s Gast.

„Ah ja, ich habe schon verstanden“, mische ich mich ein, „laden Sie sie ein zu einer kleinen Flasche Schaumwein mit Orangensaft?“

„Ich darf auch eine!“ drängelt Salina unaufgefordert. Bloss nicht zu kurz kommen. Stelle sich einer mal vor, ich hätte das laute Klatschen, bei dem ihre zusammenstossenden Hände fast mein Ohrläppchen abgerissen haben, gar nicht gehört.

„Ehm, ja, so ein Glas...“ sagt Müllerins Gast und hält mir die Hand entgegen, Daumen und Zeigefinger im Abstand von ungefähr fünf Zentimetern.

„Ich auch!“ Salina nun etwas lauter, entnervter.

 „Ja, ich hab’s ja verstanden!“ sage ich auch etwas lauter, entnervter. Und, wieder ruhiger an Salina’s Gast gewandt: „Ist das ok? Für die Micky Maus hier auch einen?“

„Ja, ok...“ Pause. Ich hörte förmlich, das da noch etwas –zumindest ein ‚aber’- kommen sollte. Ich ging trotzdem schonmal Richtung Bar.

 „...was kostet das denn...?“ vollendete jetzt Salina’s Gast den angefangenen Satz. Das hörte ich jetzt allerdings nicht mehr. Mein Ohren sind noch taub vom Klatschen.

Ich strecke die Hand in die Luft, mit zwei auseinander gespreizten Fingern.

„Zweimal kleine Hafenrundfahrt mit Speicherstadt!“ sagte ich zu meinem Kollegen Bauch, der sich von seinem Sitzplatz so langsam Richtung Bar vorgearbeitet hatte. Er hat ein Kilos vor sich her zu schieben, das geht nicht so schnell. Und er war wohl gerade eingenickt. Jetzt gab er mir schläfrig zwei kleine Fläschen Schaumwein aus dem Kühlschrank an und reichte zwei Karaffen Orangensaft über die Bar.

 

„Paul! Paul!“ zischte es zwischen den Rhythmen der Musik hindurch, von irgendwo hinten im Gastraum. Ich schaute mich um. Müllers Liesel hielt ihre Handflächen im ungefähren Abstand von zwei Metern übereinander. Sie wollte grosse Flaschen, keine kleinen. Ich zögere. Die beiden Gäste, die überredeter Massen bestellt hatten, sind um die dreissig Jahre alt, aber nicht besonders gekleidet, machen von ihren etwas gewöhnlichen Köpfen mit einem unintellektuellen Gesicht her auch nicht den Eindruck, dass sie mit brillianter Intelligenz Mengen von Geld verdienen.

Egal, wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Schliesslich sind wir Glücksritter und keine Ordensschwestern. Als ich wieder an den Tisch zurückkomme und die schwarzen Nägel an den Händen des einen Gastes sehe, der sein Geld wohl eher mit körperlicher Arbeit verdient, komme ich mir vor wie ein Tempelräuber. Aber ich habe auch keine Lust auf Ärger mit den beiden Lieblingen von Freddy, wenn die Gäste nachher ein prallvolles Portemonnaie aufklappen und ich nur die Sparversion des Schaumweines serviert habe.

 

An der Theke des Girlie’s zurück, mache ich schon mal zwei Rechnungen, ein jeder der beiden Opfer ist mit 320 Euro dabei.

 

„So, ihr Lieben,“ leite ich das Gespräch vorsichtig-zärtlich ein als ich wieder am Tisch bin, „darf ich dann schon einmal kassieren?“

Böse schaut mich Susi an: „Jetzt warte doch mal,warum so schnell? Wir wollen uns doch erstmal ein bisschen vergnügen!“

Das bedeutet: sie wollen nochmal so eine Hafenrundfahrt buchen. Aber nicht mit mir! Ich habe den beiden schon den Gefallen getan und grosse Flaschen statt kleiner gebracht. Nun reicht’s.

Unbeirrt bete ich die Rechnungen herunter: „Dann hatte jeder von euch ein Bier und eine Flasche Schaumwein, richtig?“ Die Preise verlese ich vorsichshalber erstmal nicht mit.

„Ja, richtig!“ sagt der eine. Ich bin erleichtert. Zumindest schon einmal ein ‚Ja’. Aber nur einen Moment lang, bis der andere sagt: „Also ich hatte nur ein Glas bestellt!“

Wieder hält er Daumen und Zeigefinger im Abstand in die Lauft, der Abstand beträgt jetzt nur noch zwei Zentimeter. „Tja, wir haben aber nur Flaschen,“ kontere ich routiniert, „steht auch so in der Karte!“

 

Die Getränkekarten sind auf weissem Karton mit schwarzer Schrift zu drucken. Die Höhe der Buchstaben muss mindestens vier Millimeter betragen. Die Karten sind auf den Tischen des Gastraumes so aufzustellen, dass sie gut sichtbar sind. Sie dürfen nicht von Aufstellern wie z.B. Ständern mit Servietten oder Gläsern mit Strohhalmen verdeckt sein.’

So steht es in der Konzession, die ein jeder Betrieb haben muss und die für ihn bindend ist.

 

Ich ziehe die Getränkekarte hinter dem Glas mit den Strohhalmen hervor. Damit sie gut sichtbar ist, steht sie hinter den Strohhalmen aufrecht in einem Ständerchen und ist auf der Vorderseite noch mit einem bunten Werbeprospekt „Auf der Rote Meile nachts um halb eins“ geschmückt. Ich falte die Karte auseinander und lege sie auf den Tisch.

„Dann bekomme ich bitte 320 Euro – von jedem!“ sage ich, während ich die Rechnungen auf dem Tisch vor die beiden Männer lege. Sie sitzen sich gegenüber und ihre Köpfe knallen über dem schmalen Tischchen fast zusammen, als sie sich gleichzeitig und ruckartig über die Rechnungen beugen.

„WAAASSS? Wieviel?“ rufen sie fast im Chor. Ungerührt zeige ich auf die entsprechenden Positionen der Getränkekarte, die zumindest tatsächlich auf weissem Karton mit schwarzen Buchstaben gedruckt ist. Früher nahm man gerne rote Buchstaben, die sind bei den vielen roten Lampen im Laden nicht ganz so aufdringlich. Aber dank dem Ordnungsamt ist das jetzt vorbei.

„Aber der Türsteher hat gesagt, dass der Eintritt frei ist!“ versucht es Müller’s Gast.

„Der Eintritt ist auch frei.“ antworte ich gespielt gelangweilt, „die zehn Euro hier sind für dein Bier!“ „Aber was kostet dann 320 Euro?“ will der Mann jetzt wissen.

„Na hör mal, das ist doch nicht der Einritt! Das wäre ja glatter Wucher!“ sage ich entrüstet. „Ich habe nichts bestellt!“ entscheidet der Gast von Salina sich jetzt, und wie zur Bekräftigung schiebt der die Rechnung auf dem Tisch weit von sich. Er lehnt sich in die blauen Samtpolster der Sitzbank zurück und verschränkt die Arme vor der Brust.

Er macht zu. Jetzt wird’s schwierig.

„Ich auch nicht!“ beschliesst der andere, „soviel zahle ich nicht!“

„Ja Moment!“ Jetzt muss ich die Situation versuchen zu retten, das ist der Job des Kellners. Getränke servieren kann jeder, aufs Kassieren kommt es an.

„Hast du nicht bestellt oder willst du soviel nicht zahlen?“

„Soviel kann ich gar nicht zahlen, ich habe nur fünfzig Euro dabei!“ sagt der eine, „Ich habe gar nichts bestellt, sagt der andere und der erste wieder: „Nein, ich auch nicht! Ich bezahle gar nichts!“

Ich weise auf die vier rot blinkenden Camera-Attrappen in Hammerschlag-Metalloptik in den Ecken des Ladens hin, von denen ich behaupte, dass sie hier alles aufzeichnen.

 

Kollege Bauch kommt langsam an den Tisch geschoben, hält sich erst einmal im Hintergrund.

Ich rede weiter auf die Gäste ein. Die Stimmen werden lauter, ich will Geld, sie wollen es nicht geben. Mit dem Kollegen habe ich abgesprochen, dass einer immer der ruhige, zugängliche ist, und der andere auf einmal aufbraust.

Macht Kollege Bauch dann auch:

„Pass mä auf du Komikää, wenn du jetzt nicht ganz fix deine 320 Oier hier bezahls, zieh ich deine (ovale Hühnerprodukte, weiss oder braun, zu Ostern auch mehrfarbig erhältlich) durch dein (kreisförmige Öffnung hinten mittig über den Oberschenkeln angebracht) und mach nen Dobbelknoten in deinem (äussere, schlauchförmige Endung des Harnkanals). Dann kannsu beim (Vermehrungsakt) nen Looping (Injektionsgerät, Mehrzahl, 8 Buchstaben quer)! Hassu mich verstann’n?“ klärt ihn Kollege Bauch mit feinstem Voyeurodamer Akzent über sein angestrebtes Vorhaben im Falle des Nichtzahlens auf.

 

Müllerchens Gast reicht es. Er steht auf. „Nehmt die Flaschen einfach wieder mit, ich gehe jetzt!“ Kann er aber nicht, ich stehe ihm im Weg und mache weiter Druck. Ich suche im Hinterkopf mein Rechtswissen zusammen und mache ihn auf den Paragraphen 263 des Strafgesetzbuches aufmerksam und teile ihm mit, dass er gerade eine Straftat mit Namen Betrug begeht. Dann erkläre ich ihm weiterführend den Paragraphen 127 der Strafprozessordnung, der ‚Jedermann-Festnahme’ heisst und bei Verdacht auf eine Straftat angewendet werden kann. Ob das in dieser Situation wirklich der Fall ist, will ich lieber nicht erforschen. Das sage ich ihm aber auch nicht. Der Gast wird nun vorsichtiger, weicht zurück und setzt sich sogar wieder hin. Ratlos sieht er den anderen an.

Zu dem sagt mein Kollge gerade in diesem Moment einfach nur: „Setz dich hin, sonst hau ich dir in die Fresse!“ Kollege Bauch hält nicht so viel von umständlichen Rechtsbehelfsbelehrungen.

 

Die beiden Gäste bocken.

Ich muss den letzten Trumpf aus dem Ärmel holen und das Handy aus der Hose.

„Mir reicht’s jetzt, ich rufe die Polizei an!“ teile ich entschlossen mit. „Der Haftrichter kommt in Voyeurodam Montags morgens um acht, der wird entscheiden, was mit euch beiden geschieht!“ Ich suche im Telefonbuch nach der Nummer der Polizei, drücke wichtig ein paar Knöpfe auf dem Display, führe das Gerät ans Ohr und warte einen Moment. Dann führe ich so laut, dass die beiden es gerade eben hören können, ein immaginäres Gespräch mit der Polizei.

 

Die beiden Männer scheinen sich in ihr Schicksal ergeben zu haben und warten nun brav auf der Bank, was geschieht. Ich stehe neben dem Tisch und warte auch. Kollege Bauch versucht, den Preis herunterzuhandeln, er blubbert dabei unverständlich-dumpf wie ein Achtzylinder vor sich hin, die beiden winken ab. Sie sind völlig fertig und mit der Situation überfordert. Sie gucken sich ratlos an. Ich schaue bezeichnend auf meine Armbanduhr, als wenn ich die nicht angerufene Polizei minütlich erwarte.

 

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich der schwere blaue Samtvorhang an der Tür ruckartig zur Seite bewegt. Es wird auf einmal taghell in dem sonst düsteren Laden. In dem Licht sehe ich Männer hereinkommen, herein rennen, viele.

„Polizei, Polizei, nicht bewegen, dies ist eine Razzia, alle die jetzt stehen, auf den Boden!“ Es kommen immer mehr Männer herein, alle tragen grüne Kampfmonturen der Bereitschaftspolizei.

Und wieder: „Hier ist die Polizei, alle die stehen auf den Boden legen, die anderen die Hände auf die Tische! Ich will die Hände sehen!“

Ich träume wohl! Schaue irritiert auf mein Handy, der Bildschirm ist dunkel, das hilft mir auch nicht. Ich hab doch gar nicht wirklich angerufen! Der Gast von Salina schmeisst seine Geldbörse auf den Tisch, ruft laut:

„Ich bezahle ja, ich bezahle, keine Panik!“ Der andere Gast reisst erschrocken die Hände empor.

„Sie da, hinlegen habe ich gesagt! Auf den Boden! Sofort!“ Der meint mich! Erst jetzt fällt mir auf, dass ich der einzige bin, der noch steht. Ich lege mich bäuchlings auf den Boden, mitten in den Gang. Mein Bauch wird nass und kalt. Eine Bierpfütze. Ich sehe, wie immer mehr Polizisten hereinkommen, einer hat eine Camera und filmt alles, ein anderer eine helle Lampe auf einem Stativ. Die Polizeibeamten gehen durch die Gänge, vor jedem Tisch bleibt einer stehen. Ab und zu höre ich wie sie sagen: „Die Hände bleiben auf den Tischen. Das ist eine Razzia!“

Zwei Schmiermichel tasten die Liegenden ab, auch mich. Sie suchen nach Waffen. Einer fummelt an meiner Gesässtasche herum. Da ist etwas hartes!

„Was ist das?“ herrscht er mich an. „Meine Taschenlampe!?“ sage ich vorsichtig. Ich will jetzt keine übereilte Reaktion des Bullen hervorrufen. Er fasst in meine Tasche, holt langsam die Leuchte hervor und stellt sie auf den Tisch. Er trägt Handschuhe. „Gut, Sie können jetzt wieder aufstehen! Sind sie der Kellner? Gehen Sie langsam und ruhig hinter die Bar und legen sie dort die Hände sichtbar auf den Tresen!“

 

Alle stehen und sitzen wie eingefroren. Freeze Frame. Stillstand.

Acht Schmiermichel gehen zwischen den Sitzreihen durch, kontrollieren die Ausweise. Freddy auf seinem blauen Plüschthron protestiert. Er erzählt irgendwas von seinen Rechten, die er hätte als unbescholtener Bundesbürger. Bundesbürger? Der Polizist schaut angestrengt in seinen albanischen Reisepass, leuchtet mit einer Lampe darauf, steckt ihn dann in seine Tasche.

„Das ist meiner!“ schreit Freddy, „der ist Eigentum des albanischen Volkes, äh... der Teilrepublik – also... des Staates Albanien!“ verheddert er sich in der politischen Wirren Ex-Jugoslawiens.

„Den kriegt Ihr Staat auch zurück – ob Sie den zurück kriegen, hängt von Ihrer Kooperation ab! Gegen Sie und Ihren Betrieb liegen Anzeigen vor wegen Bildung einer Kriminellen Vereinigung nach Paragraph 129 StGB! Sie sind Verdächtiger einer Straftat, Sie brauchen hier keine Angaben zur Sache zu machen. Wenn Sie doch aussagen, kann dies später gegen Sie verwendet werden. Bleiben Sie auf Ihrem Platz sitzen bis ich Ihnen sage, dass Sie aufstehen dürfen!“ Die Worte entbehrten nicht der Strenge. Der Sheriff hat vier Sternchen auf seiner Schulterklappe. Silberne Sternchen. Mit dem ist nicht zu spassen. Das sieht auch Freddy allmählich ein. Dennoch kämpft sein ADS im Kopf gegen seine Gliedmassen, die sich am liebsten ganz schnell von hier, aus dieser für ihn so unbequemen Situation, weg bewegen wollen.

Nach einger Zeit setzen sich seine Muskeln in Bewegung, zum Glück für ihn nur die, die den Mund steuern: „Kann ich mir was zu trinken holen? Ich habe einen ganz trockenen Mund!“ „Sie bleiben genau dort sitzen! Wenn Sie aufstehen, werte ich das als Widerstand gegen Polizeibeamte und werde Sie fixieren!“ Der Vierpickelige klimpert mit den Handschellen, die er am Gürtel trägt. Unmissverständlich! Freddy bleibt sitzen, sinkt gar mehr und mehr in sich zusammen auf seinem Plüschsessel. Er wirkt gebrochen. Der Grosse, der Imperator, der, dem nie jemand widerspricht. Weil das mit seinem ADS nicht vereinbar wäre.

Für einen kurzen Moment tut er mir leid.

 

Als Kriminelle Vereingung sieht uns die Schmiere an, seit sie mit ihren ständigen Vorladungen der berügerischen Kellner nicht mehr weiter gekommen sind. Es macht einen Haufen Arbeit, jeden wegen jeder Kleinigkeit, die doch nie vor Gericht kommt, anzuhören, zu vernehmen, das alles aufzuschreiben.

 

Nun versuchen sie diese Tour:

Freddy hat einen Tabledance-Laden. Er ist der Chef, der zusammen mit seinen Komplizen, den Mitarbeitern, Menschen abzockt und betrügt.

Das geht nach der Vorstellung der Polizei so: der Koberer vor der Tür lockt die ahnungslosen, unschuldigen Gäste unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, nämlich der, dass es ein schöner Abend wird mit Musik und Tanz und hübschen Mädchen, in den Laden. Die Tänzerinnen betören den Gast bis ihm die Sinne schwinden und die Animösen verführen ihn dann, Getränke zu bestellen, deren überzogene, vom Ordnungsamt genehmigte Preise der böse Kellner dann gewalttätig und gnadenlos kassiert.

 

Stell dir mal vor, du hast ein Strassencafé an einem gut besuchten Plätzchen in der Stadt. Dein Koberer ist die warme Frühlingssonne, deine Tänzerin die Blumen, die sich im sanften Winde wiegen, in den Kästen an dem niedrigen Zäunchen, dass deinen Biergarten umgibt, deine Animierdame ist die Bedienung, die höflich fragt, ob es noch ein Muckefuck sein darf, und der räuberische Kellner kassiert hinterher zwei Kännchen des leckeren Kaffee’s für je sechsfuffzig. So teuer? „Ja, tut mir leid, draussen haben wir nur Kännchen...!“

 

Kommt dann auch die Schmiere, wirft dir Bildung einer Kriminellen Vereinigung vor und verhaftet die Sonne, den Gartenzaun, die Blumen, die freundliche Bedienung und den Kellner?

 

Das ist die Rote Meile.

Vielleicht nur, weils hier keine Blumen gibt.

Und kein Kännchen Kaffee für sechsfuffzig.

 

Das kostet hier dreissig Euro.

 

 

 

Echte Hooligans

 

Es klatscht!

Naturlich, wieder die Müllerin und Salina, das „Goldene Gespann“, wie Freddy die beiden immer nennt.

Sie sitzen bei zwei Jungs, Bübchen eher, vielleicht beide so Anfang zwanzig. Der Akzent am Tisch verrät: das Kassieren könnte schwierig werden, obwohl die beiden die aktiven Zeiten des real existierenden Kommunismus gar nicht mehr mit erlebt haben dürften, und wenn, dann nur mit Windeln um den Po. Trotzdem: das Elternhaus prägt, und die meisten Leute aus der „ähämalschen Dädä-err“ haben den neudeutsch- bundesweiten Kapitalismus und die Gesetze der Freien Marktwirtschaft noch immer nicht verinnerlicht, viele noch immer in dem treuen Glauben: „...dis gäät ooch wieda vorrübor!“

 

„Woher seid ihr denn?“ fragt Salina gerade in dem Moment, als ich am Tisch ankomme. „Oos Drääsd’n!“ sagt der eine mit dem roten Pullover, der andere, hager, dünn, lang, mit Brille, die die Augen um ein mehrfaches vergrössert, sagt: „Joo, abba wa sinn jo nich dööf! Gib da blo’es nix öös, haste nich das in da Zeitung jelesen?“

Die Zeitungen schreiben – des alljährlich wiederkehrenden Medien-Sommerloches wegen – im Moment wieder jede Menge Halb- und Unwahrheiten über die sogenannten Nepp-Läden auf der Roten Meile.

 

„No, blo’es nen Kleenen!“

„Was darf es denn sein?“ versuche ich Licht und Struktur in die östlichen Laute zu bringen, die ich da höre.

Salina: „Wir dürfen eine halbe Schaumwein mit Osaft!“, und die schöne Müllerin zu mir, mit einer mich-wegscheuchenden Geste: „Ja, ist schon alles klar, nun mach doch mal hinne!“

Ich behalte mit dennoch die kellnerische Freiheit vor, bei den beiden Buben zumindest mal nachzufragen:

„Alles klar? Ladet ihr die beiden Mickymäuse ein, zu einer kleinen Flasche Schaumwein mit Orangensaft?“

„Noa, kloor!“ sagt der zum Bestellen Aufgeforderte, und „Nä’e, blöss nich!“ wehrt der andere ab. Ich entscheide mich für das „Noa!“ des ersten und meine mich zu erinnern, dass das aus dem Östlichen übersetzt „Ja“ heisst.

Trozdem entschliesse ich mich, alsbald nach dem Servieren die Rechnung zu machen, ehe das Traumgespann noch weitere Fläschchen bestellt, heute ist nicht viel los im Girlie’s und es besteht die Gefahr, dass die beiden bei einem Gast gleich denken, das Gehalt für den ganzen Monat verdienen zu können.

 

Ich lese die Rechnung bei Gästen vor und lege sie bei dem, der bestellt hat, auf den Tisch und vor die Nase. „...360 Euro bekomme ich dann bitte!“

„Woss? Nä’e, dis gäät obbo nich! So viel Geld hob ich jo goonich!“ und der Bebrillte glotzt durch seinen Restlichtverstärker auf die Rechnung am Tisch: „Noa siehste, dis hoob isch do doch gesoogd!“

Nach dem üblichen Hin- und Hergezicke am Tisch und dem leichten Erheben meiner Stimme entschloss sich der im roten Pullover dann doch, mit mir zum Geldautomaten zu gehen und den im Portemonnaie fehlenden Betrag vom Konto abzuheben.

Schliesslich bezahlt, trinken die beiden aus und verlassen den Laden.

 

Fertig, die nächsten bitte!

 

 

 

Von wegen, so schnell sollte das nicht gehen!

Mir war zu diesem Zeitpunkt noch ganz und gar nicht klar, dass mich die Penetranz der beiden „Össis“ noch die ganze Nacht durch auf meiner Arbeit – und sogar in meinen Feierabend begleiten sollte.

 

Eine Stunde später...

 

Der Vorhang geht auf, Porter-Bernd kommt rein. Ohne Gäste, allein. Er hält den Vorhang mit einer Hand auf, die andere, in meine Richtung gestreckt, ist zur Faust geschlossen, nur der Zeigefinger bewegt sich lockend hin und her. Dabei zieht der die Mundwinkel nach aussen und damit den Mund zu einem Strich zuammen, auch auch die Augen sind zusammengekniffen. Bernd kann manchmal schon fitzige Fratzen machen. Ich aber weiss, dass das eine Bedeutung hat.

„Hier, Herr Oberkellner!“ so nennt er mich immer, „komm mal raus, da will jemand den Chef sprechen!“

„Freddy ist nicht da!“ sage ich lakonisch, will mich wegdrehen, schaue aber vorsichtshalber doch noch mal neugierig in Richtung des geöffneten Vorhanges. Draussen stehen der Rotpullover und das Brillengesicht. Na dann!

Ich gehe raus, frage nach dem Anliegen. Das Geld wollen sie zurück, das wäre ja alles Wucher.

 

Wie bei den Bundesstaatlich Anektierten so oft, beginne ich mit derAufklärung über den seit mehr als 20 Jahren allgemein vorherrschenden Kapitalismus, in diesem unserem Staate’( H. Kohl) , „...selbst nach den Preisen erkundigen, die Zeiten, dass euch alles erklärt wird und ihr wie eine Herde geleitet werdet – und wenn es in die Irre ist -  sind vorbei...!“, sowas in der Art sage ich ihnen.

Vergeblich! Rotpullover besteht auf seinem Geld, und weil er mit der Durchsetzung seiner Forderung bei mir nicht wirklich weiterkommt, fährt er nun andere Geschütze auf:

„Ähj, Aldor, wenn de mia dis Geld nich wiedorgibbs, dann komm isch nächste Woche mit zweehundortfuffzch Hooligans aus Drääsd’n, und dann räumen wo den Loden hier mol so rischtisch uff!“

 

Ach du je!

Ich biete ihm an, es zur Probe doch vielleicht erst einmal mit mir zu versuchen mit dem Aufräumen, so Mann gegen Mann, obwohl ich das eher im Spass meine. Wenn ich mir seine schmale, kleine und zerbrechliche Statur so ansehe, fasse ich ihn besser nicht an.

Aber er besteht auf den Holligans, erwähnt noch, dass er einer von ihnen sei und ich entgegene, dass er, wenn die alle so aussähen wie er, er am besten 500 davon mitbringen solle.

So langsam reichts mir. Ich rate ihm, besser zu gehen und erst in Begleitung seines Dräsd’ner Karnevalsvereins wiederzukommen. Er trollt sich schliesslich, seinen weitsichtigen Kollegen im Schlepptau.

 

Wieder eine Stunde später...

 

Bernd wieder in der Tür, den Vorhang wieder weit aufgerissen.

„Paul komm mal, deine zwei Freunde sind wieder da!“

Nö! Nicht schon wieder! Ich schicke den Kollegen Schnürschuh raus, der ist immer ein wenig rabiater als ich es bin, in der Hoffnung es möge helfen.

 

„Die sind endgültig weg,“ weiss dieser kurz darauf zu berichten, „der eine ist laut geworden, da hab ich ihn in die Hecke nebenan geschmissen!“

 

Problem gelöst, es ist eh Feierabend.

Ich konzentriere mich auf die Abrechnung, als das Telefon bimmelt, fünf Minuten vor Schluss. Ich greife zum Hörer des blauen Apparates, der hinter dem Tresen steht und erwarte Freddy’s Stimme, der die Umsätze wissen will.

„Noa, is do dis Görlie’s? Isch wollt mo frogen, ob ich nu dis Geld wiedokriesch odo nisch!?“

Innerlich fliegt mir die Feder aus dem Hut, äusserlich versuche ich, Ruhe zu bewahren, erkläre dem Buben, dass er etwas bestellt hat, das er auch erhalten und bezahlt hat, und das damit der Vorgang abgeschlossen sei. Ich wünsche ihm fernmündlich noch einen schönen Morgen und lege auf.

 

Trotzdem lasse ich Salina und Frau Müller doch lieber zum Hinterausgang des Ladens hinaus. Wenn man die Tür des Ausganges öffnet, der eigentlich ein Notausgang ist und die sich gleich neben der Personaltoilette befindet, kommt man in einen schlauchartigen Hinterhof, der sicherlich 80 Meter lang ist und zwischen Häuserrück- und Seitenwänden hindurchführt, alle ohne Fenster, höchstens einmal mit dem Oberlicht einer Toilette versehen. Im dämmrigen Morgengrauen des Spätsommers ein nicht allzu heimeliger Ort, und so bitten mich die beiden Mädels dann auch, sie bis zum Ende des Ganges zu begleiten, an dessen Ende eine stets unverschlossene Gittertür auf die Parallelstrasse hinter der Roten Meile führt.

 

Schon am Gitter sehe ich, was ich kaum glauben mag! Die beiden Peneranten stehen auf der anderen Strassenseite – und warten! Wie haben die herausgefunden wo der Hinterausgang vom Laden endet? Woher wussten die überhaupt dass es einen Hinterausgang gibt? Das grenzt ja fast an Stalking!

Ich gehe mit den Mädchen die paar Schritte zu Salinas Auto, dass ganz in der Nähe steht, begeleitet von den beiden Ostdeutschen, die aber doch respektvoll auf der anderen Strassenseite bleiben und ab und zu Sätze herüberrufen wie: „...wos is denn nü met dim Geld??“ und „...sonst kömmen wo nächste Wöche mit d’n Hooligans!“

 

Nein, ich habe nicht wirklich Angst, bin aber doch recht beeindruckt über den Aufwand den sie betreiben und über die Hartnäckigkeit mit der sie versuchen, ihre wackelige Forderung doch noch zu realisieren. Auch sind es schmale kleine Bubis, so hört man doch immer wieder von Menschen, die austicken, ein Messer ziehen und schlimme Sachen anstellen. Ich bin vorsichtig.

Nachdem Salina und Susi abgefahren sind, wage ich doch einen Versuch, das Ost-Drama zu beenden: „Haut ab ihr Idioten, ihr seid hier im Milieu, ihr wisst gar nicht, worauf ihr euch hier einlasst!“ und renne auf einmal auf die beiden zu, die sich immer noch auf der anderen Strassenseite aufhalten, innerlich und im Nachhinein eigentlich gar nicht wissend was ich tun würde, wenn sie nicht weglaufen. – Sie laufen aber weg, wie die Hasen, im Rennen schreit der Rote trozdem noch: „Isch will main Geld zürück! Wa kömmen mit d’n Hooligans!“

 

Endlich Feierabend.

 

 

Kollege Schnürschuh und ich schliessen den Laden vorne an der Tür zur Roten Meile ab, verabschieden uns. Wir haben beim verlassen des Girlie’s sorgfältig die Umgebung gescannt, ich aus Vorsicht, er, weil er Bock hat, es den beiden mal so richtig zu besorgen.

 

Ich gehe unbehelligt meiner Wege, niemand mehr zu sehen. Mein Auto steht ein paar Strassen weiter, ich schliesse auf und fahre los, Richtung nach Hause, die Rote Meile hinauf.

Es ist viel los, morgens um diese Zeit, kurz nach fünf. Betrunkene torkeln über die Strasse, man muss bremsbereit sein und bleiben. Taxis versperren den Weg oder bremsen abrupt, um Fahrgäste vom Strassenrand aufzunehmen. Ich lasse den Abend im Schnelldurchgang revue passieren, halte an der Ampel Rote Meile Ecke Hafenstrasse. Werfe einen Blick in die Runde, links neben mir ein Taxi, aus dem laut Musik hämmert, hinten drin zwei Jungs, die im Takt der Musik mit den Köpfen nicken. Rechts ein roter Kleinwagen mit drei Jungs. Die zwei die vorne sitzen, schauen herüber, wahrscheinlich wegen meinem im heutigen Strassenbild doch schon recht selten gewordenen Oldtimer.

Die Ampel ist grün, ich fahre los, die Kaiserstrasse rauf. Hier ist wie von Geisterhand weggewischt auf einmal kein Verkehr mehr.

 

Endlich Feierabend.

 

Im Rückspielgel der rote Kleinwagen. Ein Fiesta, älteres Baujahr.

Ich mache das Radio an. Kein Auto kommt mir entgegen oder fährt hinter mir. Ach doch, der rote Fiesta. Kennzeichen DD, erkenne ich in umgekehrter Schrift im Rückspiegel.

 

An der nächsten Ampel steht der kleine Ford wieder neben mir. Der Fahrer kurbelt das Fenster herunter.

 

Brillengesicht!

 

Ich bekomme ehrlich gesagt einen Mordsschreck! Schaue nach hinten, auf die Rückbank des Kleinwagens. Da sitzt der Rotpullover, brüllt was aus dem Seitenfenster, was ich nicht verstehe.

Träume ich? Wo kommen die denn her? Haben die mich etwa in ständiger Deckung verfolgt, über die ganze Rote Meile, bis hin zu meinem Auto? Ist es Zufall? Was soll ich jetzt machen? Mir ist danach, auszusteigen, die Kerlchen aus dem Auto zu ziehen und ihnen ein paar kräftige Backpfeifen zu verpassen.

Die Ampel wird grün. Sie fahren nicht los. Ich fahre. Sie hinterher. Ich fahre ganz langsam, die Strasse Belgische Reihe rauf. Ich denke nach. Was tun? Wie automatisch greift meine Hand in die Mittelkonsole, nimmt das Handy. 1 – 1 – 0 wähle ich. Vielleicht wissen die Rat?

 

„Polizeinotruf, guten Tag!?“

„Joh, guten Tach, mein name ist Paul König,“ melde ich mich und ich erzähle in Kurzfasung die gesamte Geschichte vom Girlie’s bis zum jetztigen Moment, wo der rote Fiesta immer noch hinter mir ist. Ich erwähne auch das von dem angedrohten Hooligan-Aufmarsch, beschreibe die Jüngelchen aber als eher kindlich und bieder, knabenhaft, dumme Jungs halt.

„Das würde ich an Ihrer Stelle nicht so leicht nehmen Herr König!“ entgegnet der Telefonschmiermichel am anderen Ende der Leitung, „Sie wissen nicht, was die vorhaben! Sie sollten langsam und vorsichtig fahren. Rechnen Sie damit, dass sie irgend etwas Unüberlegtes anstellen könnten! Warten Sie mal...!“

 

Er legt den Hörer beiseite. Ich höre im Hintergrund Funksprüche von Polizeiwagen, irgendwelche Meldungen, dann wird das Gespräch stumm geschaltet, ich höre eine Wartemelodie.

„Wo sind Sie denn jetzt?“ meldet sich der Polizist am Telefon zurück. „Auf der Friedensallee!“ entgegne ich. „Ja, ist gut, dann fahren Sie mal die nächste rechts, in die Schlüterstrasse. Fahren sie ruhig und vorsichtig, vermeiden sie, dass das andere Auto neben ihnen fahren kann. Man weiss nicht, ob die Jungs vielleicht bewaffnet sind!“

Ich muss schlucken. So schlimm? Übertreibt der nicht ein bisschen?

„Wissen Sie, wie sie von dort aus zur Kantstrasse kommen?“ will der Polizist jetzt wissen. „Ja, weiss ich!“

„Wissen, sie, wo die Polizeiwache auf der Kantstrasse ist?“

„Ja, weiss ich auch!“

„Ok, fahren sie dorthin und halten sie unmttelbar vor der Tür! Wir bereiten dort mal was vor...!“

Ich bin ein wenig erschrocken über soviel Einsatzbereitschaft der Polizei, gebe dem Schmiermichel bereitwillig mein Kennzeichen und das meines Verfolgers durch und beschreibe mein recht auffälliges Auto.

 

Während ich die Schlüterstrasse hinunter fahre und gerade das Gespräch beendet habe, fällt mir auf, wie ein dunkler BMW in sehr schneller Fahrt auf der entgegenkommenden Fahrbahn, die durch einen breiten Grünstreifen von meiner getrennt ist, entlangrast. Sonst ist auch hier noch kein Verkehr am frühen Morgen. Hinter mir immer noch der Fiesta. Hier wird die Strasse breiter, sie hupen, versuchen mich zu überholen, wie ich im Spielgel sehe. Ich fahre in der Mitte der Strasse, um sie daran zu hindern, wie mir der Polizist geraten hat. Was ist auch sehe, ist der dunkle BMW, der mir gerade noch auf der anderen Seite der Strasse entgegenkam. Nun ist er hinter dem Fiesta. Gehören die womöglich auch dazu? Das Kennzeichen kann ich nicht erkennen. Ich fahre nun in die Kantstrasse, dort vorne links ist die Polizeiwache, die Kantstrasse ist eine Einbahnstrasse, aber sie wird hier zweispurig. Ich ziehe nach links, kann die Wache jetzt gut sehen. Vor der Tür, an einen Streifenwagen gelehnt, sehe ich zwei Polizisten stehen. Ich gebe Zeichen mit der Lichthupe.

 

Dann überschlagen sich die Ereignisse.

 

Auf einmal kommt von rechts, ganz knapp vor mir, ein Peterwagen aus einer Hofeinfahrt, mit Blaulicht, jetzt ertönt auch das Martinshorn. Ich trete in die Eisen, sehr stark sogar, weil der Polizeiwagen dicht vor mir auftaucht. Er bleibt quer auf der Strasse stehen, direkt vor meiner Motorhaube. Hinter mir sehe ich jetzt noch ein Blaulicht. Auf dem Dach des BMW. Vorher war das noch nicht drauf. Und eine Stimme, von hinter mir aus dem Lautsprecher, auch aus dem BMW: „Der rote Fiesta da, hier spricht die Polizei! Stellen Sie den Motor ab und steigen Sie ganz langsam mit erhobenen Händen aus. Machen Sie keine schnellen und unüberlegten Bewegungen. Hier spricht die Polizei!“

 

Im Spiegel sehe ich, dass der Fiesta ganz knapp hinter mir steht, etwas nach links versetzt, als war er im Ansatz, mich zu überholen. An meinem Wagen stehen nun zwei Polizisten, die Hände am Pistolenholster. „Steigen Sie langsam und vorsichtig aus, ich will immer ihre Hände sehen!“ sagt der eine in einem ruhigen aber bestimmten Ton, der keine Widerrede duldet. „Haben Sie uns angerufen?“

 

Ich tue wie mir geheissen. Ich sehe jetzt, wo ich aussteige, dass die drei Jungs auch aus dem Auto steigen, ich höre die Stimme eines Polizisten: „Raus, Hände auf das Wagendach, na los, keine falsche Bewegung!“ Ein weiterer Polizist steht etwas abseits, die Pistole gezogen aber auf den Boden grichtet.

„Wos’n löös, wo hob’n goor nix gemocht!“ höre ich die Stimme von Rotpullover. Und Brille schreit: „Do, der do, der hat üns obgezöckt!“ und deutet auf mich. Drei Polizisten tasten die Jungs ab, ich sehe, wie sie danach in die Wache gebracht werden.

 

Ganz grosser Bahnhof, mit so einer Aktion habe ich nicht gerechnet.

 

Auch ich werde durchsucht und danach in die Wache gebracht. Der Polizist erklärt mir, dass sie schliesslich nicht wissen können, wie sich die Sache wirklich verhält und ob nicht vielleicht doch ich, obwohl ich angerufen habe, der Bösewicht bin.

 

Drinnen, vor dem Tresen in der Polizeiwache, muss ich meine Taschen ausleeren, die Jungs stehen an eine Tisch weiter links und müssen das selbe tun. Sie werden befragt, ich kann nur Wortfetzen in ostdeutschem Akzent verstehen.

 

Nach einer haben Stunde etwas hat sich herausgestellt, dass die Jungs eigentlich auf dem Heimweg waren und mich nur zufällig an der Strassenecke im Auto erkannt hatten. Sie standen nun neben mir, bewacht von zwei Polizisten, einer, ein grosser, älterer, etwas dicklicher Polizist ist der Wortführer im Gespräch mit den Bubis. Seinen Schulterklappen nach ist er Hauptkommissar: „...das war ganz grosser Blödsinn, was ihr gemacht habt!“ sagt er mit erhobenem Zeigefinger. „Ich könnte euch wegen einer ganzen Reihe Vergehen drankriegen!“ Und er zählt auf: „Gefährdung des Strassenverkehrs, Nötigung, Bedrohung. Ihr könnt von Glück sagen dass der Herr hier keine Anzeige erstattet!“ Er zeigt auf mich.

„Für Euch ist der Voyeurodam-Trip jetzt und hier zu Ende, verstanden? Ich gebe jetzt euer Kennzeichen an alle Streifenwagen durch. Ihr fahrt auf dem direktesten Weg auf die Autobahn und weg aus Voyeurodam. Ich erteile euch hiermit einen polizeilichen Platzverweis, der gilt für die ganze Stadt. Fahrt wohin ihr wollt, aber lasst euch hier in Voyeurodam erstmal nicht mehr sehen! Wenn ihr hier nach 15 Minuten nochmal von der Polizei aufgegriffen werdet, landet ihr sofort wieder hier auf der Wache. Dann könnt ihr her erstmal in der Zelle übernachten, und dann überlege ich mir, was ich mit euch anstelle! So, alle raus, guten Tag und gute Fahrt, aber plötzlich!“

 

Endlich Feierabend.

 

 

Angriff aus Down Under

 

Als ich vom rauchen, draussen vor der Tür, wieder reinkomme, ist der Laden leer. Leer von Gästen, aber auch leer von Mitarbeiterinnen.

Einzig Serena, die russische Kugelstosserin aus Rumänien, sitzt brav in dem blauen Plüschsessel, der auf der Bühne steht und auf dem sich die Tänzerinnen von ihrer schweisstreibenden Arbeit erholen dürfen. Heute treibt Serena zumindest nicht der Schweiss auf den Sessel – es ist schon den ganzen Abend lang mal wieder nichts los.

 

Geld verdienen in einem Cabaret auf der Roten Meile hängt von vielen Faktoren ab.

 

Einerseits vom Wochentag.

Waren früher Tage wie Mittwoch und Donnerstag die erfolreichsten Tage unter der Woche, so sind es jetzt im Moment gerade Sonntag und Montag.

 

Dann ist es auch noch verdienstentscheidend, ob es regnet oder nicht.

Wenn es regnet, bummeln die Menschen, die Touristen, nicht über die Strasse –die paar wenigen, die dann unterwegs sind, weil sie es müssen, hetzen mit hochgeschlagenen Jackenkragen den Gehweg entlang, manche mit dem Schirm so tief im Gesicht, dass sie die Läden, die um das Interesse und vor allem das Geld der Vorbeihuschenden kämpfen, zumeist gar nicht bemerken.

 

Wieder etwas anderes ist es, wenn der Abend schön, ein wenig warm und vor allem trocken begonnen hat. Da hat man Chancen! Die Touris sind nämlich ohne Jacke, deren Kragen sie hochschlagen könnten und ohne Schirm, der die Sicht auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben – die Cabarets- verdecken könnte, auf ihren Rote-Meile-Bummel gestartet. Und dann auf einmal so ein plötzlicher, kräftiger Wolkenbruch, aus heiterem Himmel und unerwartet – das ist prima. Denn da strömen die Opfer wie von selbst in den Laden, schutzsuchend, panisch, nass werden zu können, das teure Seidenhemd, wenn das Wasserflecken bekommt, womöglich muss man es neu kaufen!

 

Nachdem sie dann aus dem Laden entlassen werden, hätten sie sich von der Zeche, die sie drinnen verursacht haben, so circa 10 neue Seidenhemden kaufen können.

 

Schlecht ist es auch, wenn es warm wird im Frühjahr.

Die ersten warmen Tage sind für Läden wie unseren ganz schlecht. Da wollen die Leute auftauen, in der Frühlingssonne, die letzten Eiskristalle des Winters aus der Blutbahn schmelzen, Sonne tanken, Frühlingsluft schnuppern.

Raus.

Nur nicht in ein Cabaret.

 

Der Winter ist auch schlecht.

Auch hier bummelt niemand, jeder sieht in der Kälte zu, dass er möglichst schnell von A nach B kommt. Schlechter ist es noch, wenn Eis und Schnee auf den Gehwegen liegen. Dann besteht die Gefahr, dass man ausrutschen könnte. Und wer will schon der Länge nach auf der Roten Meile herumliegen. Also geht dann erst recht niemand weg.

 

Der Sommer ist auch nicht gut.

Dann ist es heiss, jeder liegt tagsüber im Freibad, wenn er nicht eh arbeiten muss. Und abends sitzt man bis spät in die Nacht auch nicht wirklich gerne im Cabaret, sondern eher im Biergarten in der lauen Sommerluft – gerade weil man morgen schon wieder arbeiten muss – oder eben wieder ins Freibad will.

 

Gar nicht gut sind auch die Tage vor Feiertagen, auch wenn Freddy immer sagt:

„Da kommt was! Da muss was kommen! Die Leute kommen extra einen Tag vor dem Feiertag, um auf der Roten Meile was zu erleben!“

Bei solchen Aussagen hat Freddy wohl eher seine ‚Goldene Zeit’ in den Siebzigern vor Augen, wo das noch so war, weil es nackte Mädels sonst nur in einschlägigen Herrenmagazinen im Sexshop gab, für dessen Besuch man damals noch oft in eine andere Stadt reiste wo die Gefahr, beim Betreten eines solchen Ladens von Nachbarn oder Kollegen erkannt zu werden, nicht ganz so gross war.

Heute gibt es für die Abteilung ‚Nackte Mädels’ das Internet, Freddy, auch wenn Du das immer noch nicht begriffen hast. Und da ist alles billig wenn nicht gratis.

 

Die Tage, die auf die Tage vor den Feiertagen folgen, also die Feiertage selbst, sind auch meistens eher schlecht, da viele Feiertage mit kirchlichen Anlässen zu tun haben. Und auch wenn Norddeutschland nicht wirklich katholisch ist, so leben wir schliesslich von den Touristen, und die kommen meist nicht aus dem Norden, sondern halt aus eher katholischen Gegenden. Die besichtigen dann den Michel im Mondschein, und nicht die sündigen Cabarets.

 

Wenn aber ein Volksfest in Voyeurodam stattfindet, derer es da zahlreiche gibt, wie zum Beispiel dreimal im Jahr der Jahrmarkt, die grösste Kirmes des Landes, die gleich drei Wochen lang dauert, Hafengeburtstag, die Motorrad-Tage, ein riesiges Motorrad-Spektakel, den Streetmove, eine 70ger-Jahre Retro-Klamotte mit Strassenumzügen und entsprechender Musik, um nur einige zu nennen - ist es übrigens auch ganz schlecht.

 

Fazit:

Wann ist es denn nun eigentlich ein guter Tag, um Geld zu verdienen?

Wenn es irgendwo zwischen warmem Spätwintertag und kühlem Frühsommertag ist, kein Feiertag und auch kein Tag davor, ein Abend, an dem es warm und trocken ist und bei dem gegen ziemlich genau 22.11 Uhr ein sibirisch-kalter Regen-Hagel-Schnee-Schauer einsetzt, der nicht im Wetterbericht angekündigt war.

Aber bitte nicht in der Uraubszeit. Denn da ist ja sowieso nichts los. Und wenn die Wetterkapriole nicht zufällig sowieso zusammen fällt mit einem der zuvor beschriebenen Tage, die ohnehin schon von Natur aus schlecht sind.

 

Also nie!

 

Wir leben vom Zufall, sind Wegelagerer des Glückes, einmal muss er ja in irgend einen Laden hereingeweht werden, der ‚Goldene Freier’.

So ab und an passiert das auch tatsächlich einmal.

 

Heute sieht es eher nicht danach aus.

Wie gesagt, als ich vom Rauchen, darussen vor der Tür, wieder reinkomme, ist der Laden menschenleer.

 

Aber kaum bin ich drin, geht der schwere blaue Samtvorhang, der das Innere des Ladens von der Strasse trennt, schon wieder auf. Bernd kommt herein, mt seinen 78 Jahren immer noch gut zu Fuss und immer einen flotten Koberer-Spruch auf den Lippen. Im Schlepptau hat er einen Mann, der zumindest Erwartungen entfacht.

 

Er ist etwas angesäuselt, wie es scheint, eher outdoor-mässig gekleidet, um die 60 jahre alt, in knielangen Outdoor-Shorts mit praktischen Taschen auf den kurzen Hosenbeinen und mit einem Rucksack, der an einem Gurt über die rechte Schulter hängt. Sein Gesicht mit 7-Tage-Bart strahlt etwas aus von einem sonst penibel-genauen Prokuristen, der heute mal ausnahmsweise auf alkohlischen und bekleidungsmässigen Abwegen wandert.

 

Die Kugelstosserin springt etwas überrascht von dem unerwarteten Besuch vom Sessel auf, hat ihre Schuhe gar nicht an weil sich die Füsse vom langen herumsitzen ja auch mal erholen müssen, bekommt sie auch im Stehen wegen der hohen Absätze so schnell nicht an die Füsse, stolpert noch über einen davon, der am Boden liegt, und lacht prustend ob der blöden Situation.

Bernd lenkt mit einem gekonnten Spruch aus der Hüfte von der peinlichen Situation ab, setzt den Gast an den Tisch vorne rechts, an unseren Gold-Tisch, auch genannt ‚Tisch 17’.

 

Wenn der Laden leer ist, werden die Freier immer an diesen Tisch gesetzt, weil er von der Tür aus gut einsehbar ist und nachfolgende Gäste dann zumindest einen Tisch besetzt sehen, wenn sie reinkomen.

Es hat eben fast alles einen Sinn in so einem Cabaret.

 

Der Mann sitzt, bekommt ein Bier.

Ich bringe es selber hin denn Salina und die Müllerin kommen nur langsam und sehr unlustig aus der Garderobe, wohin sie sich verzogen hatten. Wenn ich Freddy wäre, hätte ich die Garderobe längst abgeschlossen. Aber Freddy fehlt halt gänzlich der Überblick.

 

Beide haben das obligatorische Handy in den Händen, nehmen auch bei Gehen den Blick nicht von den kleinen Bildschirmen, auf deen sich das wirklich wahre und wirklich wichtige Leben abspielt.

Die beiden leiden an einer Krankheit, die es erst seit ein paar Jahren gibt und die noch völlig unerforscht ist – dem ‚Fratzenheft-Syndrom’. Augenscheinlich unheilbar, denn die zwei Hühner verbringen die ganze Nacht mit der Pflege dieser Krankheit. Ich mache vielsagende Gesten, dass sie ihre Geschwindigkeit etwas beschleunigen sollen, die hübsche Salina klimpert mit ihrem kaffeebraunen Augenliedern, Müllerin sieht mich gar nicht mal, der Blick ist starr und konzentriert auf das Display gerichtet, sie findet den Weg durchs Girlie’s auch blind. Schliesslich ist sie schon 12 Jahre hier.

Trotz des Schneckentempos ist sie die erste am Tisch vom vermeintlichen Prokuristen, der seine Flasche Bier schon fast ausgtrunken hat.

 

„Na, was geht ab bei Dir?“ fragt Susi Müller routiniert und ohne jegliches, wirkliches Interesse an der Antwort. Sie sieht den Gast nicht einmal an, denn der „KlingKlong“-Ton aus dem rosafarbenen Kunststoffkästchen in ihren Händen, den sie auf Bauchhöhe hält, verrät, dass ihr Schreib-Gegenüber soeben wieder etwas ganz wichtiges mitzuteilen hat.

 

Der Gast murmelt als Antwort etwas, das ich nicht verstehe. Jetzt hat auch Salina ihr Ziel endlich erreicht. Sie ist immer irgendwie etwas fröhlicher, aufgeschlossener, noch nicht ganz so abgestumpft und voll auf FB wie Susi und fragt, ob die beiden sich setzen dürfen. Mir fällt auf, dass die Müllerin bereits sitzt. Ungefragt.

 

Während Salina das Gespräch in richtung Bestellung von zwei teuren Fläschchen lenkt, sitzt Müllerchen in sich zusammengesunken auf der Bank, dem Gast gegenüber, fern des Geschehens am Tisch und starrt mit viereckigen Augen in die kleine Plastikdose zwischen ihren rot lackierten Nägeln, während ihre Daumen über die im Bildschirm eingeblendete Tastatur huschen.

Erst jetzt bemerke ich, dass Salina englisch mit dem Gast redet. Ich höre etwas von Australien. Hoffentlich kommt der da nicht her, Australier sind nicht so sehr für die bereitwillige Zahlung grösserer Summen bekannt sondern eher für Sturheit und Dickköpfigkeit.

Ich höre jetzt zwischen der Musik die aus den Deckenlautsprechern dudelt und einem belangslosen Gemurmel vom Tisch durch den entscheidenden Teil der Sache, da wo ich meinen Auftritt habe: „...may I drink something with you?“ fragt Salina.

 

Und hopp!

Müllerin’s Handy fliegt in die Ecke der Sitzbank. „I too? I too!“ schreit sie in ihrem weltmeisterlichen Englisch.

Ich habe ihr einmal zum Geburtstag ein Englisch-Lexikon geschenkt. Den Buchdeckel, auf dem eigentlich Deutsch – Englisch – Englisch – Deutsch stand, hatte ich mit Computer und Farbdrucker so verändert, dass darauf stand: ‚Müllerin – Englisch – Englisch – Müllerin’. Sie hatte laut gelacht aber es wahrscheinlich danach höchstens als kuriosen Regalschmuck verwendet – reingesehen hat sie glaube ich nie.

 

Es klatscht am Tisch!

Ich also hin, einerseits hoffnungsvoll, andererseits skeptisch.

„Wir dürfen zwei Sekt mit Orangensaft!“ ordert Salina eifrig. Und die Müllerin: „...ja bring schnell, der Typ hat Geld, ich hab so einen Knödel gesehen...!“

Sie hält die rechte Hand hin, als wenn sie etwas dickes umfasst. Ich frage vorsichtshalber mal nach, wie ich es immer tue: „Is it ok? Do you buy two ...?“ Susi fällt mir genervt ins Wort: „Ja ist ok, nun mach doch mal, was soll das denn?!“

Sie gebraucht wie aus einem Automatismus heraus immer die gleichen, genervt wirkenden Floskeln, als ob das was an meiner Art der Aufnahme der Bestellung ändern würde.

 

Also nochmal: „Is it ok? Do you buy two sparkling-wines with orange-juice for the girls?“

”Sure, of course!” lautet die kurze und knappe Bestellung des Prokuristen. Aber das reicht mir aus. Er hat „Ja“ gesagt. Darauf  kommt es an.

 

Ich beeile mich, die umsatzfördernden Fläschen Sekt nebst einer kleinen Karaffe Orangensaft an den Tisch zu befördern, schreibe alles ordentlich in das rosa Bonbuch, das in dieser altmodischen Form immer noch in fast allen Cabarets der Roten Meile gebraucht wird.

 

Registrierkassen hat kaum jemand. Meines Erachtens nach hat das Gründe die mit der späteren Bezahlung von Steuern zu tun haben. Aber da kann ich Unwissender mich natürlich auch irren...

Fest steht, dass zur Bedienung eines solchen technischen Gerätes ein gewisses Grundverständnis von der richtigen Reihenfolge des Eindrückens verschiedener Knöpfe auf der Tastatur erforderlich ist. Und da fängt bei den meisten hier das Problem auch schon an...

 

Ich beginne, eine Rechnung für den Gast zu schreiben. Wohlweisslich, dass da einige Positionen hinzu kommen könnten, fange ich ganz oben auf der Seite an und schreibe eng.

 

Die beiden Mädels und der Prokurist erheben sich jetzt gerade vom Tisch. Salina bedeutet mir, dass sie nach ‚hinten’ gehen wollen. Hinten gibt es eine weitere Sitzgruppe, durch Vorhänge vom Rest des Lokals abgetrennt, mit einer weiteren kleinen Bühne, auf der die Tänzerinnen für ihren Gast tanzen können. Was die Mädchen hier tun, funktioniert ausnahmsweise wie aus dem Lehrbuch, denn an einem anderen Tisch kann man neue Flaschen bestellen, wenn man beim Ortswechsel die anderen Flaschen „aus Versehen“ am Tisch stehen lässt. So langsam wird auch die tragbare Telefonzelle uninteressant, denn die beiden haben den geruch von Geld aufgenommen.

 

So kommt es dann auch dass ich nur wenige Minuten nach dem „Umzug“ erneut durch Klatschen an den Tisch gerufen werde.

Müllerchen: „We can noch two!“

Ich wieder: „Is it ok, may they have...?”

Müllerin: „Ja ist ok, nun mach doch mal, was soll das denn?!“

Der Gast: „Yes sure, of course!”

 

Das mit dem “of course” geht mir irgendwie alles zu einfach. Dennoch serviere ich noch zwei Sekt mit Orangensaft, zum Preis von jeweils € 400,- bzw. ungefähr 500,- Australian Dollars, denn mittlerweile steht fest, dass der getarnte Prokurist tatsächlich dort her ist.

 

Dem Lehrbuch folgend, verziehen sich die Mädels mit dem Australier im Schlepptau danach ins Separee, dass in einem kleinen Raum hinter der Bühne, zu dem ein schmaler Gang führt, untergebracht ist. Wieder gibts es eine Runde, same prodecure as before. Mit den Bierchen, die der Gast regelmässig im 10-Minuten-Rhytmus bestellt, beläuft sich meine Rechnung, die bei jeder neuerlichen Bestellung ergänze, nun auf € 2450,-.

 

Die Entscheidung für den richtigen Zeitpunkt der Rechnungslegung ist nicht immer ganz leicht.

Mache ich jetzt die Rechnung, wird der Gast vielleicht zahlen und gehen. Vielleicht werde ich beim Bezahlen so viel Geld sehen, dass er schadlos noch 3 Runden ‚Sparklingwine’ überstanden hätte. Oder jede Menge Kreditkarten, mit denen er bereitwillig bezahlt hätte. Fazit: die Mädels wären sauer, Freddy wäre sauer, und ich könnte über mich selbst auch sauer sein.

 

Lasse ich die Rechnung weiter auflaufen, ist irgendwann ein Betrag erreicht, bei dem auch der Versuch der Nachverhandlung über den Preis nichts mehr bringen könnte – dann kippt die Stimmung ruckartig und der Gast zahlt gar nichts mehr.

 

Die Entscheidung nimmt mir Salina ab, die gerade recht schnellen Schrittes und ausnahmsweise ohne Handy ankommt.

„Er will eine Zwischenrechnung!“ sagt sie und sie fährt fort, während sie sich vornüberbeugt um näher an meinem Ohr zu sein, leise: „... das ist vielleicht ein komischer Typ! Er hat uns da hinten im Separee erzählt, dass er heute nacht in einem Park geschlafen hat, auf einer Bank, weil er angeblich kein Hotelzimmer bekommen hat, und da hatte er Ärger mit irgendwelchen Pennern, die ihm den Rucksack wegnehmen wollten. Er hat sich aus einer Astgabel so ein komisches Ding geschnitzt...“ und Salina zeigte etwas, dass aussah wie ein Y oder eben eine Zwille, „... und unten ist das Ding ganz spitz! Er hat es uns gezeigt, es ist in seinem Rucksack...!“

 

Salina wirkt angespannt, nervös, fast ängstlich.

„Aber Geld hat er...,“ redet Salina weiter, „...er hat gesagt er hätte 1000 Australische Dollar in seinem Rucksack, darauf waren die Penner wohl scharf...!“

Jetzt ruft Müllerchen nach ihr, die klingt ganz entspannt. Salina geht zurück, zögerlich.

 

Ich denke nach.

Er hat eine Astgabel angespitzt. Nicht schön aber auch nicht gerade ein tödliches Werkzeug. Aber - womit hat er sie angespitzt? Mir wird nicht wohler bei dem Gedanken, der jetzt gerade durch meinen Kopf schiesst. Zum Anspitzen muss er dann wohl ein Messer haben!

Was tun?

Er ist ungefähr 60 Jahre alt und recht beleibt. Zudem ist er betrunken. Ich bin deutlich jünger und nicht betrunken. Allerdings ist mein letzter Nahkampf, bei dem es darum ging den Gegner zu entwaffnen, mindesten 25 Jahre her, das war bei der Bundeswehr. Welche Chance habe ich? Rufe ich zur Sicherheit die Polizei? Der Gast ist im Separee, und Separees sind nicht erlaubt in Rote-Meile-Nachtclubs. Ich gefährde die Konzession des Ladens. Und vielleicht ist es ein winzig kleiner Ast, und das Messer ist ein Mini-Taschenmesser. Ich mache mich lächerlich vor der Schmiere. Er wird ja wohl nicht gerade eine Machete in seinem Rucksack haben.

 

Die Entscheidung wird mir jäh abgenommen, als der Gast um die Ecke von dem kleinen Gang kommt, der zum Separee führt. Er kommt auf mich zu, mit noch unsichererem Gang als zuvor, als er den Laden betrat. Ich beschliesse, hinter der Bartheke zu bleiben, allerdings stellt er sich direkt neben den Durchgang, durch den man hinter die Bar kommt.

 

„I wanna pay now and leave!” Er klingt nicht gerade freundlich. Den Rucksack stellt er neben sich auf einen der blauen Plüsch-Barhocker und öffnet ihn. Er fischt darin herum und sucht etwas. Ich bin auf alles gefasst, kann aber von meiner Position nicht über den Tresen und in seinen Rucksack sehen. Ich muss also warten, was er hervorholt. Seine Hand kommt wieder aus dem Rucksack mit – einem Portemonnaie darin.

„Give me the bill!“ Er streckt seine Hand aus nach dem Papier, das ich festhalte. Ich beeile mich, die Positionen zu verlesen, die darauf stehen: ‚5 Bier und insgesamt 6 Flaschen Sekt und 6 Karaffen Orangensaft!’lese ich ihm vor, in englisch natürlich.

„Yeah, I know, what is the price?” Er greift jetzt nach der Rechnung und reisst sie mir überraschend behende aus der Hand.

 

„What is this? € 2450? You are crazy? I don’t pay this! Surely not!” sagt er laut und nun mit recht böser Stimme.

 

Ich versuche, nett zu bleiben, mit ihm zu diskutieren, frage ihn, was er denn für einen Preis erwartet hätte, und dass er doch gerne noch bleiben könnte.

„No, I go now!“ entgegenet er und greift zu seinm Rucksack.

 

Ich muss jetzt aus meiner schutzgewährenden Situation hinter der Theke hervorkommen, denn ich kann ihn nicht einfach so gehen lassen. Mit einer so hohen offenen Rechnung. Ich gehe durch den Durchgang auf ihn zu, rede beschwichtigend auf ihn ein und sage ihm, dass wir über den Preis verhandeln können. Er will nichts davon wissen, fängt an, mich zu beschimpfen und haut auf einmal unvermittelt mit der Faust auf den Tresen, dass die Gläser, die noch von den Mädchen darauf stehen, ein schadenfrohes Freudentänzchen aufführen und wie verrückt klirren.

 

Der Typ hat Kraft. Und er ist agressiv. Ich bin zwei Schritte vom Durchgang weg. Wenn ich jetzt zurück gehe, haut er ab. Wenn ich stehenbleibe - weiter kann ich nicht denken, denn vor mir blitzt etwas metallisches auf. Er hat von einem Moment auf den anderen ein riesig erscheinendes Fahrtenmesser in der Hand. Im Bruchteil einer Schrecksekunde fällt mir kurioser Weise sogar der richtige Name dafür ein: ein Hirschfänger. Es ist vorne spitz, die Klinge ist hauchdünn und sieht sehr scharf aus, sie ist auch um die Messerspitze herum und auf dem vordersten Teil des Klingenrückens scharf geschliffen.

 

„I go now! And you don’t stop me!” Er ist wütend, macht drohend einen Schritt auf mich zu und sieht dann kurz zur Tür.

Ich weiss nicht, wie ich es gemacht habe, und was mich geritten hat, mit der linken Hand greife ich seine Rechte, die das Messer hält und knalle sie mit aller Wucht auf die Kante des Holztresens. Ich wundere mich in diesem Moment, dass ich kaum Widerstand verspüre, das Messer fällt aus seiner Hand irgendwo auf den Tresen. Mit der rechten Hand, mit der ich vorsorglich die Metalltaschenlampe umfasst habe, schlage ich im selben Moment zu, so fest ich kann. Ich treffe etwas weiches, seine Nase, wie ich gleich darauf feststelle, die den Eingang des Schlages mit einem hörbaren Knacken quittiert. Der Australier taumelt zurück, gegen den Barhocker auf dem sein Rucksack liegt. Wie in Zeitlupe fällt er unter lautem Schmerzensschrei zu Boden und reisst den Rucksack an seinem Tragegurt mit. Er sitzt mehr auf dem Boden als dass er liegt und schreit dumpfe grollende Laute, die irgendwo zwischen Schmerz und Wut liegen. Seine linke Hand greift in den offenen Rucksack, ist überraschend schnell wieder darussen und mit der von Salina beschriebenen Astgabel in der Hand. Sie ist grösser, stabiler und vor allem spitzer als ich erwartetet hätte. Er fuchtelt halb im Sitzen mit dem Ding herum, schreit mich an, aber ich verstehe nicht was er sagt. Mit der rechten Hand versucht er sich an dem Hocker hochzuziehen.

Das ist meine Gelegenheit.

Sein nicht unerhebliches Körpergewicht hängt an der Hand, die nur auf das Hochziehen konzentriert ist. Ich reisse die Hand mit meiner Lnken am Handgelenk vom Stuhl, mit der Rechten umfasse ich seine Faust und drehe den Arm mit Gewalt nach hinten um. Es geht besser als ich dachte, weil er in dieser recht hilflosen Position sitzt. Er schreit vor Schmerz und dreht sich nach hinten, um meiner Drehung des Armes zu entgehen. Mit seiner linken Hand stösst er wahlos heftig nach hinten, immer noch die spitze Astgabel umklammernd. Ein paarmal trifft er mich beinahe, er hat Wucht in den Schlägen. Nun verspüre ich auch Widerstand in dem umgedrehten Arm, durch die Verlagerung seines Oberkörpers hat er sich etwas Bewegungsfreiheit verschafft. Ich muss nachfassen, will den Arm weiter drehen aber nun konzentriert er seine Kraft auf den verdrehten Arm und es gelingt mir nicht richtig.

 

Im Moment ist der Ast allerdings keine Gefahr, dafür drückt er sich mit dem linken Arm vom Boden ab und kommt mir gefährlich nahe. Mit körperlicher Kraft komme ich ihm nicht bei, er ist deutlich stärker und trainierter als ich, wohl auch, weil er wütend ist. Ich bin kein Schläger, habe keine Erfahrung mit solchen Situationen, aber ich weiss, wenn er aufsteht, wird er mich nicht verschonen. Dies hilft mir, aus meiner sekundenschnellen Überlegung eine Tat zu machen: ich lasse seinen Arm los, weiche einen Schritt zurück und trete ihm mit voller Wucht seitlich gegen den Kopf auf der Höhe des Ohres, als er gerade im Aufstehen begriffen ist. Er schreit laut auf vor Schmerz, taumelt gegen die Box hinter sich, hält sich das getroffene Ohr. Er federt zurück, immer noch taumelnd und greift nach der Umrandung der Bar. Ich habe es nicht gesehen, das Messer, das jetzt genau vor seiner Hand liegt, von meiner Perspektive aus durch ein Glas mit Strohhalmen verdeckt. Der Prokurist greift es mit der linken Hand blitzschnell, mit der rechten hält er sein Ohr. Ich sehe jetzt erst, dass seine Nase stark blutet, auch unter seiner Hand am Ohr läuft eine dicke rote Blutspur die Wange hinunter.

 

Er macht einen stolpernden Schritt auf mich zu.

Mir fällt nichts mehr ein! Ich müsste ihn – mit seinem Messer in der Hand und stehend – entwaffnen und auf den Boden ringen. Wie soll ich das anstellen? Ich trete noch einen Schritt zurück in Richtung schutzgewährende Bar, als ich von gleissend hellem Licht geblendet werde, dass durch den aufgerissenen Vorhang plötzlich eindringt.

„Polizei! Das Messer weg! Ich will beide Hände sehen!“ ich sehe einen Haufen Polizeibeamte in den Laden laufen, zwei haben eine Pistole im Anschlag. „Englisch, englisch!“brülle ich. „Hans up, knife away!“ ruft einer der Polizisten, „On the ground! On your knees! Don’t move! Don’t move! This is Police!“

Der Australier sieht sich nur kurz nach den Polizisten um. Dass Messer saust blitzschnell nieder, einen halben Meter vor mir kracht es in die Holztheke. Sofort zieht er es wieder heraus, als zwei Polizsten schon bei ihm sind. Was sie genau machen, kann ich nicht erkennen, weil ich immer noch von dem Licht geblendet bin, dass von zwei starken Taschenlampen kommt, aber ich höre einen Schrei, ein Gerumpel und dann liegt er am Boden, von zwei Polizisten fixiert. Er wehrt sich wie ein Berserker, versucht um sich zu schlagen, ein dritter Polizist kniet nun auf seinem Kopf, einer auf seinem Rücken, die anderen zwei legen ihm mit sichtlicher Mühe Handschellen an.

 

Der Übermacht ausgeliefert beruhigt sich der Mann langsam wieder.

Ich nicke dankbar in Müllerchens Richtung, die mit ihrer Fratzenheft-Plastikdose die Schmiere gerufen hatte. Manchmal sind die Mädels doch zu was zu gebrauchen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kollege Blaulicht steht vor mir, im Zimmer des Polizeireviers, die Hände auf Höhe des Beckens, die Arme etwas ausgebreitet, die Handfläche zeigen schräg nach oben.

„Mensch, Kööönich, was machst du denn wieder?“

Als er so gedehnt ‚Kööönich !´ sagt, beugt er dabei seinen Oberkörper leicht vor.

„Auf nen alten Mann einprügeln, sodass der in Krankenhaus muss! 63 ist der, und jetzt hat er einen Nasenbeinbruch und nen  gebrochnenen Kieferknochen!“ sagt Hebestreit ernst.

Ich: „Jo... aber der hatte doch ein Messer!...“

„Ja, wenn ich in Euren Klabauterladen gehen würde, würde ich auch ein Messer mitnehmen!“

Hebstreit setzt sich auf seinen Bürostuhl, rückt die silbern gefasste Brille auf der Nase zurecht und klappert auf der Tastatur vor ihm: „Also schreiben wir: ‚Anzeige wegen vorsätzlicher Körperverleztung an einem älteren Gast des Girlie’s, obwohl dieser zahlen wollte!...“ hackt Blaulicht in den Computer.

 

Hebestreits sieht von der Schreibarbeit auf und mich an, sein toternstes Gesicht verändert sich jetzt in ein lächelndes.

„Nee Könich, schon gut, haste richtig gemacht!“ Er nimmt die Brille wieder von der Nase. „Das war klare Notwehr! Der Typ war bewaffnet und wie es nach Einschätzung der Beamten vor Ort aussah, auch gefährlich! Er wurde auch schon einmal aufgegriffen, weil er in einem Park randaliert hat. Das war...“ Hebestreit schaut auf ein Papier auf seinem Schreibtisch „...gestern Nacht!“

 

Ufff – Gott sei Dank!

 

„Wir haben bei ihm einen Betrag von 1137,- australischen Dollars sichergestellt. Er wird nach der Behandlung im Krankenhaus des Landes verwiesen und in einen Flieger nach Downunder gesetzt. Nicht wegen dieser Geschichte, aber sein Visum ist auch noch abgelaufen, und das schon seit 2 Monaten. Seitdem treibt er sich hier rum. Wenn er abgeflogen ist, kriegt ihr das Geld, weil er bei der Vernehmung ausgesagt hat, dass er tatsächlich bestellt hat. Haste Glück gehabt, Könich!“

 

Ja stimmt! Habe ich wirklich. Und ich denke dabei weniger an das Geld...!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 




 

 

 

 

 

 

 

 



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