kiezschnitt - Freifräulein Pauline oder Essen auf Rädern
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Erscheint voraussichtlich
im Herbst/Winter 2013



Freifräulein Pauline
          -oder-
Essen auf Rädern
(eine "Paulinografie")


(noch nicht korrigiert)




 

Vorwort

 

Hannah hat mich beauftragt, Paulines Biografie zu schreiben. Hannah ist Paulines Mutter. Wir hatten uns von Anfang an gut verstanden. Sehr gut sogar. Hannah ist zwei Jahre jünger als ich. Und jung geblieben. Ich habe mich nie mit ihr gestritten. Nur jetzt.

 

„Hannah, Pauline kann doch nicht Claudia heissen, oder Susanne, oder Klothilde! Pauline ist Pauline, sonst macht das alles doch gar keinen Sinn!“

„Aber ich möchte nicht, dass du unsere echten Namen benutzt!“

„Ja – gut.“, ich weiss nicht mehr, wie ich eigentlich jetzt noch argumentieren könnte.

„Ich kann es ja auch ganz einfach lassen! Ich schreib gar keine Biografie über Pauline! Vielleicht hätte sie es ja auch gar nicht gewollt!“

Hannah macht eine abwertende Handbewegung und geht aus dem geräumigen Wohnzimmer in dem Haus im Stadtteil Othmarschen in Hamburg. Das Wohnzimmer füllt beinahe die ganze zweite Etage aus, ausserdem gibt es hier nur noch die Küche und eine Toilette.

Ich höre Geschirr klappern, Wasser laufen, und gehe in die Küche.

 

„Ich hab’s doch nicht so gemeint Hannah...!“

Sie füllt wasser in einen altmodischen Wasserkessel, so einer mit einer Pfeife obendrauf, und stellt ihn auf den Herd. Hannah macht Kaffee wie zu Oma’s Zeiten, „Oma-Kaffee“ hat Pauline den immer genannt, das Kaffeepulver wird im Filter mit heissem Wasser übergossen. Das hat den Vorteil, das das Wasser nicht wie bei einer elektrischen Kaffeemaschine immer auf die selbe Stelle tropft, sondern den Filter komplett ausfüllt. Der Kaffee schmeckt viel besser und man braucht weniger Pulver. Obwohl – sparen musste Paulines Familie wohl noch nie.

 

„Mach es so: verwende unsere Vornamen! Meinetwegen auch die richtigen namen für die Orte und Plätze, wo sich das alles ereignet hat! Bei Oma-Kleve müssen wir allerdings erstmal nachfragen. Denn bei der kannst du dir jeden x-beliebigen Namne ausdenken – man weiss sofort, wer gemeint ist, wenn du sie im Zusammenhang mit Kleve erwähnst. Und ansonsten denkst du dir eben andere Nachnamen aus! Kann ja nicht so schwer sein!“

 

Ich nicke und spiele geistesabwesend mit dem Löffel der Kaffeetasse, die mir Hannah hingestellt hat. „Ja, gut, das würde gehen. Notfalls!“

„Notfalls? Was ist das riesengrosse Problem daran?“

„Weisst du, jeder hat eine Biografie, ein Leben, dass man aufschreiben kann. Wenn es jemand ist, der berühmt ist, na oder sagen wir mal, zumindest bekannt bei vielen Leuten und in gewissen Kreisen, dann kann man seine oder ihre Biografie auch zumindest zum Teil nachprüfen. Aber wenn ich über Klärchen Müller schreibe und Pauline meine, dann weiss das niemand und niemand kann was nachprüfen! Dann kann ich mir auch einfach ein Leben van Klärchen Müller ausdenken und das aufschreiben!“

„Dann tu das!“ Hanna schüttet mir wütend Kaffee ein, mit so einem Schwung dass die Hälfte über den Rand der Tasse hinausschwappt und ein Teil davon sogar auf meine Hose, dahin, wo es am unangenehmsten ist.

Erschrocken fahre ich mit dem Stuhl vom Tisch zurück, halte die Hände auf die kaffeebedeckte Hose. Es ist heiss.

 

„Sorry!“, sagt Hannah, „war keine Absicht!“

Während ich mir einen Lappen nehme, um Schadenbegrenzung an meiner Hose zu betreiben , denke ich nach.

„Weisst du, es ist dann irgendwie keine Bografie! Das Wort „Biografie“ soll doch eigentlich anzeigen, dass es sich um eine wahre Begebenheit handelt, und dass es kein Roman oder Märchen ist und das alles wirklich so passiert ist. Aber so ist es keine Biografie, dann ist es  eine... eine...“

„Paulinografie!“

Hanna lacht jetzt!

„Ja, nenn es doch eine ‚Paulinografie’! Sie hat sich doch auch ständig solche lustigen Worte ausgedacht. Paulinografie find ich gut!“

Na toll, also eine Paulinografie!

 

„Glaubst du denn überhaupt, dass jemand, der Pauline und all die Ereignisse nicht kennt, das alles wirklich glaubt?“

„Na, das meine ich doch die ganze Zeit,“ enfährt es mir mittlerweile auch etwas ungehalten, „als richtige Biografie mir richtigen Namen kann man sowas vielleicht doch nachprüfen, vielleicht wohnt man zufällig an dem Ort oder war zufällig in der Nähe oder hat von jemandem davon gehört! Das macht doch alles erst wirklich glaubhaft!“

„Nochmal: NEIN! Keine Nachnahmen! Es wird eine Paulinografie!“

 

Basta! Hauh! Hanna hat gesprochen.

 

„Aber du musst mir schon helfen, Hannah! Ich weiss nur das, was ich mit Pauline erlebt habe und das, was sie mir erzählt hat. Aber die Zusammenhánge kenne ich nicht alle. Ich werde viele Fragen haben!“

„Ich helfe dir natürlich, soweit ich kann. Aber eigentlich muss Oma-Kleve dir helfen! Die weiss alles von Anfang an! Ruf sie an oder fahr hin und sprich das alles erstmal mit ihr durch. Und dann sehen wir, was wir machen...!“

 

 

Oma-Kleve

 

Neuerdings fliege ich immer nach Kleve.

Nicht, dass ich jetzt den coolen Vielflieger raushängen lassen will, aber ich habe einfach nicht genug freie Tage neben meiner Arbeit, um vier Stunden mit dem Auto hin und danach auch wieder vier Stunden zuruck zu fahren. Wenn kein Stau ist. Wenn auf der A 43 Stau ist, dauerts nochmal eine Stunde länger.

 

Ich habe herausgefunden, dass es eine kleine Bedarfsfluggesellschaft in Hamburg gibt, die den Flughafen Kleve-Emmerich anfliegt. Im Internet kannst du sehen, wievele Anmeldungen zusammen kommen. Der kleine zweimotorige Flieger hat 26 Plätze, 20 müssen mndestens belegt sein, damit er auch tatsächlich fliegt. Dann dauert es zweieinhalb Stunden und kostet um die achtzig Euro, und schon bist du in Weeze bei Kleve.

 

Vor dem Flughafengebüde steht schon der schwarze Mercedes S-Klasse von Oma-Kleve, ein ganz altes Modell, aber immerhin noch jünger als Hermann. Der sitzt hinter dem Steuer und ist eingenickt. Als ich vorsichtg und ganz zart mit dem Finger gegen die Fahrer-Scheibe ticke, ist er sofort wach. Er schüttelt den Kopf kurz um schneller wach zu werden, schiebt sich eilig und verlegen die Schirmmütze zurück auf den Kopf, von dem sie wohl wáhrend des Nickerchens ins Gesicht gerutscht war und springt fast behende aus dem Auto.

„Ennntschuldigung!“ stammelt er etwas verlegen. „War wohl gerade etwas eingenickt! Hatten Sie einen guten Flug?“

„Ja, danke, Hermann, er hatte nur etwas Verspätung!“

 

Wenn Herrmann Chauffeur wäre, wäre er einer der alten Schule, sogar mir hält der kleine, alte Mann den wagenschlag auf. Eigentlich war Herrmann bauer, miteigenem Grund und Boden. Aber rigendwie hate er damels Geld gebraucht, einen Kredit afgenommen und konnte ihn nicht zurückzahlen. Die Bank wollte seinen Hof pfänden und ihm wäre nichts geblieben. Und so hat ihm Oma-Kleve den Hof abgekauft, er konnte den Kredit abbezahlen und hatte sogar noch ein wenig über. Und da er nun sowieso keinen Hof mehr hatte, machte er besorgungen mit dem Auto von Oma-Kleve für Oma-Kleve.

 

Eigentlich darf ich zu ihr auch Oma-Kleve sagen, das hat sie mir erlaubt. Aber eigentlich habe ich sie immer nur so genannt in Paulines gegenwart oder zusammen mit ihren Eltern. Ihr gegenüber hátte ich das nie herausgekriegt.

Ich sagte immer ‚Frau von der Nette’ zu ihr, ihr richtiger name ist Edelgardis von der Nette Freifrau zu Cleve-Hohenlaage.

 

Wir waren vom Flughafen nach Norden, Oma-Kleve wohnt etwas ausserhalb. Wohnen ist gut. Sie residiert! Das Gut Hohenlaage liegt etwas ausserhalb von Cleve und war eigentlich mal ein Schloss. Im Laufe der zeit und der vielen kleineren und grösseren Kriege seit dem Mittelalter bis jetzt wurde es oft zerstört, ausgebrannt und zerbombt. Nicht alles wurde wieder aufgebaut, so dass heute nur noch ein herrschaftliches Gebäude davon steht. Dies ist dafür aber sehr schön und gross, hat, wenn man vor der riesigen Eingangstür steht gesehen links und rechts zwei Flügel-Vorbauten und liegt in einem wassergraben, der, wie Oma-Kleve sagt „zugegebener Massen nachtrágich angelegt wurde“. Auch gibt es noch teile der einstigen Mauer, die das Anwesen einal umgab, und zwar genau an der richtigen Stelle, nämlich da, wo man ein grosses, Schmiedeeisernes Tor als Einfahrt braucht.

 

Dies Tor steht offen, weil herrmann es wohl bei seiner Abfahrt nicht geschlossen hatte. Das muss man schon noch per hand machen. „So oft fahren wir ja nun nicht rein und raus, dass das elektrisch gehen müsste.“, so Oma-Kleves Worte.

Auf dem Kopfstein gepflasterten Weg, der sich zu einem Kreis schliesst und so an der haustür entlangführt, dass man vom Auto direkt ins Haus gelangt, umrunden wir halb das Standbild von Lohentina, dass auf dem kreisrunden Rasen steht, das schmelzende Schwert hoch über den Kopf erhoben.

Dieses Standbild sehe ich heutzutage mit anderen Augen, früher war es mir nicht besonders aufgefallen.

 

Frau von der Nette öffnet die Einganstür des Herrenhauses, als der Wagen gerade vorfáhrt. Sie sieht so aus, wie man sich eine reifrau vorstellt. Heute hat sie ein langes rotes kleid an mit einem in rottönen gehaltenen Schal, eigentlich ist es mehr ein Umhang, um die schultern. Sie hat langes, wallendes weisses Haar, heute zu einem losen Zopf auf dem Rücken zusamengebunden. Aber sie ist überhaupt nicht herrisch und arrgant, wie man aus ihrer erscheinung schliessen könnte, sondern egentlich eher eine liebe Omi in den Achtzigern, mit für ihr Ater erstaunlich modern und jungen Ansichten von allem. Sie winkt freundlich von der Treppe aus, bleibt aber in der Tür stehen.

 

Das Auto rollt noch fast, als ich schon die linke hintere Tür aufreisse. Ich will nicht, dass herrmann in seinem hohen Alter aus dem Auto hechten muss, um ir die Túr zu öffnen. Ich fnde, dass geziehmt sich irgendwie nicht.

 

„Na, da bist du ja schon, hattest du eine gute Reise?“ fragt Frau von der Nette. Sie duzt mich immer und irgendwie tut sie das zu recht. In ihrer gegenwart komme ich mir immer vor wie ein kleiner Junge.

„Komm herein...“ sie dreht sich ins Haus, stockt einen Moment und dreht sich dann wieder zurück zu mir: „... oder willst du zuerst...!?“ Ihre Hand deutet in die Rchtung der kleinen Kapelle, die in einiger Entfernung rechts vom Haus steht. Sie ist umgeben von dem kleinen Ahnenfriedhof.

 

Ich muss schlucken, sehe unweigerich dorthin, wohin ihre Hand weist. „Nein, ich glaube... später...“

 

>>> zwischenstück<<<<

 

„Komm Carlo!“ rufe ich den Hund. Er liegt immer in der Küche, auf dem uralten, schwarz-weiss Fliesen-Mosaik des Fussbodens, vor dem Herd. Sommers wie winters. Nicht, dass er dort liegen müsste. Aber er ist schon alt, manchmal denke ich, er ist mindestens so alt wie die Freifrau, seine Zeiten, als er noch wirklich seinem Ruf als Jagdhund gerecht werden konnte, sind wohl schon sehr lange vorbei.

 

Man kann nicht wirklich sagen dass Carlo enthousiastisch und sofort angerannt kommt. Er kommt mehr angeschlendert, wenn das das richtige Wort ist für seineGangart. In der Türfüllung der Küchentür bleibt er kurz stehen und sieht zu mir herüber. Er hebgt den schwanz ein wenig an, bewegte ihn zwei- oder dreimal von links nach rechts, was einem Wedeln gleichkommen sollte. Etwas kraftlos lässt er es dann aber gleich wieder sein.

 

„Komm Carlo,“ wiederholte ich, „wir gehen ein Stuckchen spazieren!“ Auch hier kann man nicht wirklich davon sprechen, dass er in Freude ausbricht, aber seine gute Erziehung als herrschaftlicher Hund erlaubt ihm keine Widerrede und er kommt nun, sogar etwas beschleunigten Schrittes, auf mich zu.

„Der wird auch immer älter,“ sagt Oma-Kleve, „früher hat er seine Leine gleich mitgebracht! Das ist wohl endgültig vorbei.“

 

Ich leine carlos an und gehe mit ihm aus der Tür, nach links, Richtung Friedhof. Ohne Leine würde er auch jetzt noch versuchen, Hasen zu jagen, Frau von der Nette hat Angst, dass er sich dabei einen Herzinfarkt zuziehen könnte. Deswegen muss er auch für die paar hundert Meter an die Leine.

 

Wir gehen hinter der kleinen Kapelle entlang.

Der Niederrhein ist katholisch, ein jedes Herrenhaus hat hier eine eigene Kapelle, in der Familienfeiern wie Gottesdienste bei Taufen, Hochzeiten und leider auch bei Todesfällen stattfinden. Die Kapelle hat die Grundform eines T, wobei der linke Flügel des oberen T-Striches erst kürzlich und in aller Eile hinzugefügt wurde. Sie sieht eigentlich von ihrer Form her nicht aus wie eine Kapelle. Denn an den linken und rechten angebauten Seiten befindet sich jeweils ein grosses, schwarzes, nach oben abgerundetes Tor mit jeweils zwei Türflügeln. Das linke Tor wurde kürzlich eingebaut, damit die Kutsche mit dem Sarg darauf auf der linken Seite ein und auf der rechten wieder ausfahren konnte. Der rechte Flügel des Tores steht leicht offen, ich ziehe ihn mit der Hand ein wenig mehr auf, schaue hinein. Um die Ecke nach rechts kann ich den kleinen hölzernen Altar sehen, auf dem eine Kerze brennt. Nein, ich kann nicht hinein gehen, es geht nicht.

Die Erinnerungen kommen hoch, ich muss schlucken und fühle, wie mein Blick verschwommen wird.

 

Tür wieder zu, schnell weiter gehen.

Carlo sieht mich stumm an, trottet neben mir her, nach rechts hinter der kleinen Kirche herum, ein paar Schritte. Dann setzt er sich. In diesem Moment schiebt sich eine dunkelgraue Wolke vor die Sonne.

Ich bin einst evangelisch getauft, trotzdem schlage ich vor dem Grab ein Kreuz auf der Brust und falte die Hände, sehe einen kurzen Moment zu Boden und hebe dann den Blick.

 

 

Hier ruht

 

Pauline-Caroline Maria Rinildis Lorentina

Wohlgeborene derer von der Nette und

Ritterliches Fräulein zu Cleve und der Grafschaft Hohenlaage

(Pauline-Caroline von der Nette Freifräulein zu Cleve-Hohenlaage)

 

geb. 10. Februar          gest. 21. Juni

in Kleve/Niederrhein                   in Genf/Schweiz

 

 

Warum, Pauline?

 

steht mit goldenen, aufgesetzten Lettern auf dem mannhohen Grabstein aus schneeweissem Marmor, der ein angedeutetes, nach beiden Seiten abfallendes Dach hat, dass nach vorn über den Grabstein übersteht und rechts und links von zwei, ebenfalls schneeweissen, Marmorsäulen gehalten wird.

 

Nein, das steht da verdammt nochmal nicht, auf dem richtigen Grabstein steht auch ihr richtiger Name, aber auf diesen habe ich mich mit der Familie halt geeinigt! Entschuldige Pauline! Meiner Meinung nach sollte eine Biografie den richtigen Namen enthalten, aber es ist ja keine Biografie, sondern eine Paulinografie.

 

Neben den Daten stehen auch noch die Jahreszahlen, aber die würden dieses Buch in eine bestimmte Epoche verweisen und ausserdem Rückschluss auf die Person gestatten. Der Todestag ist aber erst vor sehr kurzer Zeit gewesen.

 

Die Erde auf dem Grab ist frisch geharkt, das war sicherlich Herrmann gewesen.

Schalen mit Bumen stehen darauf und eine Vase mit frischen Schnittblumen. Ich kenne mich nicht so doll aus mit Blumen, ich weiss nicht, welche es sind. Sie sind gelb und weiss.

Ich gehe langsam um das Grab herum und nehme eine Grabvase hinter dem grossen Grabstein weg, dort liegen noch mehr. Ich stelle meine mitgebrachten Blumen hinein und ordne sie sorgfältig. Sieben rote Rosen, ohne das grünzeig, dass die Blumenläden so gerne als Volumen-Bringer hinzufügen. Pauline mochte das Zeug nicht. „Weniger ist oft mehr!“ sagte sie dann immer.

Ich stecke die Vase rechts vor dem Grabstein in die Erde. Jetzt fallt mir auf, dass ich noch Wasser bräuchte. Das kann ich auch nachher holen.

 

Ich wische mit den Fingerspitzen leicht und vorsichtig, zärtlich, über das Bild von Pauline, dass in einem hochkant-ovalen, goldenen Bilderrahmen über der Schrift angebracht ist. Ich hatte ‚goldfarben’ schreiben wollen, aber Oma-Kleve hat mir erklärt, dass er wirlich aus echtem Gold ist.

Es ist das Bild darin, das auf Frau von der Nette’s neunundsiebzigsten Geburtstag gemacht wurde – von mir.

 

Ich kann nun das Heulen nicht mehr unterdrücken, auch jetzt, wo ich dies afschreibe, muss ich heulen.

Auf dem Bild trägt sie einen eleganten weissen grossen Hut, der an einen Schlapphut erinnert, der aber nicht schlapp ist, und ein weisses Kleid. Darüber, an einer goldenen Kette, hat sie ein grosses, goldenes Kreuz um den Hals, mit darin gefasst fünf Rubinen. Alter Familienschmuck.

 

Als ich das Bild, auf dem etwas Staub war, abgewischt habe, fühle ich warme Strahlen im Nacken. Die dunkle Wolke ist weg, die Sonne scheint jetzt wieder für einen Moment. Komisch nicht?

 

Carlo liegt vor dem Grab und hat den alten Kopf müde auf die Vorderpfoten gelegt.

„Komm, Carlo, lass uns gehen,“ sage ich traurig, schaue noch einmal zum Grab und gehe ein paar Schritte vor.

„Komm, Carlo, ich weiss du bist auch traurig, aber es hilft ja nichts.“

 

Carlo kommt nicht.

Als ich ihm aufmunternd auf die Seite klopfe, regt er sich nicht.

 

Carlo ist tot. Es beginnt zu regnen.

 

 

Darf ich vorstellen? Kleine Pause!

 

Ich hielt ihr artig die Beifahrertür auf.

„Oh, ein Mann mit Stil und Umgangsformen! Das mag ich!“ Sie liess sich auf den Sitz fallen, tastete sofort nach dem Verstellhebel und schob den Sitz ganz zurück, bis der Schnapper hörbar metallisch in der letzten Stufe einrastete. Erst jetzt dachte ich darüber nach, wie gross sie wohl war.

 

Ich stieg ein und drehte den Schlüssel um den Motor zu starten.

‚Rrrr, rr, r-r-r-r’ ‚machte es.

 

Mist!

Peinlich!

Ausgerechnet jetzt.

 

Pauline sah mich von der Seite an, grinste. „Dein Auto mag mich nicht!“stellte sie fest.

„Doch, äh, er hat lange gestanden, es ist die Batterie...“

Noch ein Versuch.

‚Rrrrrrr, rrrr, rrr, r-r-r-r’.

Nichts.

 

Sie lachte wieder. „Mach nochmal! Jetzt wirds gehen!“ behauptete sie.

Während ich den Schlüssel drehte sah ich im Augenwinkel, wie sie ihre Arme vor der Brust verschränkte und aus der Windschutzscheibe in Richtung des Motors starrte, mit einem irgendwie eingeforenen Blick.

 

„Es wird nicht gehen,“ sagte ich, „die Batterie ist hin, fürchte ich!“

‚Rrrr, r-r-r-r’, machte der Anlasser, und wie zur Bekräftigung sagte der Magnetschalter des Anlasser dann noch: ‚Klick-klick, klick!’

 

Ich hielt den Schlüssel weiter fest, sah zu Pauline, als wenn ich sagen wollte ‚siehste!’. ‚Brummmm, brumm’, machte der Motor auf einmal, ohne dass ich erneut gestartet hätte.

 

Nun sah sie zu mir rüber, löste die Arme vor ihrer Brust wieder und grinste, als wenn sie nun sagen wollte ‚siehste!’

„Glück gehabt.“ Murmelte ich erleichtert. „Ja, Glück!“ sie lehnte sich wie triumphirend in den Sitz zurück. „Fahr los, wir müssen nach Othmarschen, immer gradeaus!“

 

 

Während der Fahrt musterte ich sie von der Seite, immer wenn sie nach rechts zum Fenster hinaussah. Und das tat sie oft, als wenn sie mir die Gelegenheit geben wollte, sie ausführlich zu mustern. Sie war fast so gross wie ich, einszweiundachtzig, schätzte ich. Wie alt sie war, konnte ich nur schwer schätzen. Sie hatte ein recht kindlich-freches Gesicht, süss irgendwie, mit den grossen, dunkelblauen Augen die mich sofort fasziniert hatten und Sommersprossen, Stupsnäschen, und mit einem hübschen Schmollmund mit darin ganz gleichmässigen, strahlend weissen Zähnen. Vom Gesicht her war sie vielleicht achtzehn, von der Grösse her achtundzwanzig.

 

„Wie alt bist Du eigentlich?“

„462 Jahre“, sagte sie trocken. „Nein, warte, im Februar werde ich 463!“

Witzig! Trotzdem musste ich grinsen. „Dafür hast Du Dich aber gut gehalten!“

 

„Da vorne rechts kannst Du anhalten. Da wohne ich!“ Sie zeigte auf eines der hübschen Hamburger Bürgerhäuser, ordentlich weiss gestrichen. Ich parkte das Auto am Bordstein. Hier standen noch mehr hübsche weisse Bürgerhäuser, alle ordentlich weiss gestrichen, eines neben dem anderen. Wir luden die Tüten aus dem Kofferraum. Sie nahme eine und ging gleich los, blieb dann wieder stehen.

 

„Deal!?“fragte sie. „Wenn du mir beim Treppen-schleppen hilfst, lad ich Dich auf nen Tee ein!“ Das hörte sich gut an, ich hatte es eigentlich nicht erwartet. Lädt man eine Schilling-Bekanntschaft gleich auf einen Tee ein?

 

Die drei schwersten Tüten hatte ich! Sie stiess das kleine schmiedeeiserne Gartentörchen auf, das in einen kleinen, sehr gepflegten Vorgarten führte. Ich ächzte mit den drei Tüten die Stufen zur Haustür hinauf, hinter ihr her. Sie kramte in der hellblauen Umhängetasche, die mich irgendwie an die Turnmatten in der Schule erinnerte, nach dem Schlüssel. Die Tasche hatte braune Lederecken, auch irgendwie aus der Turnhallen-Welt einer Schule.

 

„Gehst du eigentlich noch zur Schule?“versuchte ich neugierig noch einmal, etwas Verwertbares über ihr Alter heraus zu finden..

„Jetzt gehen wir jedenfalls erstmal zu mir!“ sie machte ein neunmalkluges Gesicht und suchte weiter nach dem Schlüssel, um das Versprochene wahr machen zu können.

 

In der Zeit studierte ich die Klingeln.

Es gab vier Klingeln, mit jeweils einem blankpolierten, altmodischen Messingschild daneben. Auf dem unteren stand in verschnörkelten Grossbuchstaben: ‚V. D. NETTE, Büro’, darüber nur ‚V.D.NETTE’, auf dem nächsten stand gar nichts und auf dem oberen stand ‚Paulines Welt’

„Oh Gott, müssen wir etwa ganz nach oben, mit den Tüten?“ Sie lächtelte mitleidig: „So schlimm wirds nicht!“

 

Sie öffnete die Haustür, ging einen Schritt hinein und hielt mir die Tür auf. Der Flur war bis an die Decke mit hübschen, alten weissen Kacheln bedeckt, der Boden war aus dunkelgrauem Granit. Als sie auf den Lichtschalter drückte, erstrahlten von der Decke dirket über mir ein schwerer, metallener Kronleuchter mit sicherlich zwanzig Lampen, weiter hinten aus der Decke leuchteten viele kleine Halogenlämpchen. Alles sah sehr hübsch, aber auch sehr teuer aus. Nach ein paar Metern kam eine weitere Treppe mit vier Stufen. Oben angekommen sah ich zu meiner Verwunderung einen uralten Aufzug, mit schmiedeeisernen Gittern rundherum, links daneben gab es auch eine Treppe.

 

Pauline öffnete von Hand das Gitter und die Tür, die sich zur Seite faltete. Als wir im Fahrkorb waren, schloss sie alles wieder von Hand und drückte auf den obersten Knopf, auf dem „4“ stand. Eine kurze zeitlang geschah nichts. Dann ein Summen, ein Rucken, der Aufzug setzte sich langsam und mit einem Knarren und Krächzen in Bewegung.

 

Hoffentlich kommen wir mit dem Ding wirklich oben an...

 

Als er anhielt, öffnete Pauline zu meiner Verwunderung die rechte Wand des Aufzuges. Mir war gar nicht aufgefallen, dass es hier eine Tür gab. Ein Aufzug mit zwei Türen? Sie stiess das Gitter auf und ging in einen Raum. Ich folgte ihr, aber nur eine Schritt weit, dann blieb ich stehen. Ich stellte die Tüten auf den Boden vor mir und staunte!

 

Ein riesiger Raum tat sich vor mir auf, lichtdurchflutet von rechts und links jeweils drei neben einander liegenden Kippfenstern, die in das zu beiden Seiten halbschräge Dach eingelassen waren. Rechts unter den Fenstern stand ein riesiges rotes Etwas, mindestens drei mal vier Meter gross, was entfernt an ein Bett erinnerte. Es war übersät mit irgendwelchem Kram und auch Bettzeug lag darauf.

Im ganzen Raum verteilt standen Bilder, grössere und kleinere, ich erkannte vier Staffeleien, nein fünf, mit darauf mehr oder weniger fertigen Gemälden. Links unter den Fenstern stand ein grosser, alter Holztisch, mit darauf kleinen und grösseren Bechern und Eimerchen, Gläsern mit Pinseln darin, Farbpaletten, Lappen, Farbtuben und verschiedenen Werkzeugen. Irgendwo stand ein bequemer Leder-Fernsehsessel, an der Wand gegenüber hing ein riesiger Flachbildfernseher mit bestimmt zwei Metern Bilddiagonale. So einen grossen hatte ich noch nie gesehen! Und überall Bilder, Bilder, Bilder.

 

„Bist Du – Malerin?“ fragte ich vorsichtig.

„Nein, Kanichenzüchterin.“sagte sie flapsig. „Versuch nicht, aufgrund von ein paar Anhaltspunkten auf einen Menschen zu schliessen. Wenn du nett bist, lernen wir uns kennen und dann wirst du schon alles über mich erfahren, was dich scheints so brennenstens interessiert!“

 

Ok, Schnauze halten, nicht denken, nur gucken...

 „Komm, setz Dich.“ Sie deutete auf das grosse rote Ding, dass sie etwas von dem Kram befreite, der es fast vollständig bedeckte.

Ein Schriftzug, auf den Polstern aufgedruckt, kam zum Vorschein. ‚Kleine Pause’ stand in bunten Buchstaben, jeder in einer anderen Farbe, darauf.

 

„Darf ich vorstellen? Kleine Pause, mein Lieblingssofa!“

„Na, KLEINE Pause ist etwas untertrieben!“ stellte ich fest.

„Ein Freund von mir hat es gemacht, extra für mich, ein schwitzender Designer, äh... ein Schweizer Designer!“

 

Von solchen Wortspielereien sollte ich künftig noch mehr hören.

 

Ich setzte mich anweisungsgemäss auf Kleine Pause und sah verwundert, dass sie alle drei Tüten, die ich am Aufzug hatte stehen lassen, jetzt mit Leichtigkeit auf einmal nahm und in einen kleinen Raum brachte, der gegenüber des roten Ungetüms war, und dessen Wände scheinbar nachträglich in den riesigen Dachraum eingebaut waren. Ich konnte erkennen, dass sich darin wohl eine kleine Küche befand.

 

„Darf man hier rauchen?“ fragte ich vorsichtig. „Klar, muss doch jeder selber wissen wie er ums Leben kommen will!“ Frech! Aber irgendwie süss-frech! Während ich so langsam feststellte, dass ich immer verknallter wurde, brachte sie mir einen Aschenbecher und nahm mir die Zigarette, die ich gerade angezündet hatte, mit der anderen Hand aus dem Mund. „Dankeschööön!“ grinste sie. „Ich mach uns Tee, sieh Dich ruhig um!“ Sagts und verschwand in der Küche.

Nicht, dass ich jetzt gerade so doll auf Tee stand...

 

Ich liess meine Blicke schweifen.

 

 

 

 

 

Hexenkabinett

 

Rechts , also hinter der vorgebauten Küche, gab es noch eine Tür, und dahinter schien es noch einen Durchgang zu geben. Ich stand auf und ging in diese Richtung. Tatsächlich! Der riesige Raum ging hier noch weiter! Ich erschrak, als beim Betreten des Durchganges gleissend helles Licht anging, wieder Halogenstrahler in der Decke, hunderte, wie mir schien. An allen Wänden in dem Raum hinter dem Durchgang waren Regale angebracht, vom Boden bis zur Decke, rund um mich herum. Quer gestellt in diesem Raum – ebenfalls Regale. Alle gefüllt mit Büchern, es gab kaum einen leeren Platz in den Regalen. Das mussten Tausende sein!

 

„Mein Gott, hast Du viele Bücher!“entfuhr es mir. Langsam ging ich durch den Raum. Er war etwas kleiner als der, in dem Kleine Pause stand, aber dennoch sehr gross.

 

Ganz hinten in der Ecke gab es grosse Bücher mit einem sehr alt wirkenden Einband. Mal aus schwerem Leder, mal aus Holz mit Leder-Besatz. Auf dem Regal, über diesen Büchern, war ein Holzschild angebracht, darauf stand mt schwarzer, zerlaufener Farbe: „Hexenkabinett“.

 

Ich nahm eines heraus. Ein kleiner hoher Bistrotisch stand neben dem Regal, mit schwarzem, gusseisernem Fuss und Marmorplatte, gleich unter einem kleinen Fenster. Ich legte das Buch darauf, denn es war sehr schwer. Neugierig klappte ich es in der Mitte auf. Es hatte dicke, gelbliche Seiten, die nicht alle genau gleich gross waren, beschrieben mit einer Schrift in schwarzer Tinte, die ich nicht sofort lesen konnte. Es schien mir handgeschrieben, der Anfangsbuchstabe einer jeden Seite links oben war grösser als die anderen und reichlich mit Ornamenten und Farben verziert.

 

Ich versuchte, zu lesen:

 

Ich - habe – ein – eine – ah, eingeatmet.

Und -  ich - habe - menschliche – nein, messliche – unermessliche Kraft – geschöpft...“ las ich laut vor mich hin.

 

Dann hörte ich ihre Stimme. Auswendig sagte sie auf, während sie näher kam:

Und so lies was geschehen wird; und deute meine Zeilen; bevor der Mond 6 mal voll ist wird die Katz dich 6 mal gesehen haben. Und wenn zum 6 ten Male er halb ist werden deine Augen von Tränen verschleiert den Mond nicht mehr erkennen ob deines Bösen und auch die Sonne nicht... - Ein  altes Hexenbuch aus dem 14. Jahrhundert!“ sagte sie.

 

„Das muss ja richtig wertvoll sein, “sagte ich.

„Naja, je nachdem was Du meinst! Es gibt bestimmt einen gewissen Geldwert – aber den kenne  ich nicht, der ist auch nicht so wichtig! Die Texte sind wertvoll – für den der was damit anfangen kann. Du hast komischerweise gleich eine Seite aufgeschlagen, die in deinem Leben noch eine Rolle spielen wird!“

 

Ich sah sie an. Sie sagte das so nebenbei, so selbstverständlich, ich konnte das jetzt gerade nicht einordnen. Irgendwie klang das sehr weise, was sie sagte. Mehr konnte ich mir dabei im Moment noch nicht vorstellen.

 

„Komm, Tee ist fertig!“ Sie ging vor, zurück in den Raum mit Kleine Pause, sprang auf das rote Ding und setzte sich in den Schneidersitz. Mit der Handfläche klopfte sie auf die Stelle neben sich und forderte mich zum Hinsetzten auf.

„Du bist ein ausgefallener Mensch, glaube ich...“ sagte ich zu ihr.

Sie lachte: „...da hast Du recht!“

Wie recht ich haben sollte, stellte ich nach und nach immer mehr fest.

„Wie alt bist Du denn nun?“

„Wie gesagt, nächsten Monat werde ich 463, Du bist herzlich eingeladen zu meiner Birthday-Party! Keine Angst, es kommen nicht nur Teenies zwischen 320 und 500 Jahren, ich hab Freunde und Bekannte aller Altersklassen. Der Designer von Kleine Pause kommt auch, der ist mindestens über 1000! Mit dem wirst Du Dich gut verstehen.“

 

Ok. Also sie will es nicht sagen.

Keine weiteren Fragen mehr über ihr Alter also.

Frauen sind da ja auch schon mal komisch was das anbetrifft.

Ich werde es schon noch erfahren. Sehr süss, sehr hübsch, aber auch sehr merkwürdig.

 

„So komm! Ich hab Hunger, wir gehen essen!“ entschied sie spontan. „Ich lade Dich ein, für deine Hilfe beim Einkaufen. Hier um die Ecke ist mein Lieblingsitaliener, er hat heute geöffnet!“sagte sie und zog mich von Kleine Pause, hin zum Aufzug. Ich konnte gerade noch meine Jacke packen.

 

An diesem Neujahrs-Tag fuhr ich gegen dreiundzwanzig Uhr nach Hause. Wir hatten vorzüglich gegessen, sie hatte gezahlt, ich weiss nicht wieviel. Jedenfalls kein Bargeld. Es gab auch keine Rechnung. Sie sagte leise irgendetwas zu dem Kellner, öffnete ihr Portemonnaie und holte eine Kreditkarte heraus. Sie war schwarz und ich sah nur das grün-weisse Logo einer bekannten amerikanischen Kreditkartenfima. Für einen Moment lang war ich erstaunt. Ich hatte beruflich viel mit Kreditkarten zu tun, und die scharze Farbe war in der Regel ein Zeichen für uneingeschränkte Kreditwürdigkeit. Wieder – sehr merkwürdig.

 

Wieder zu ihr, pausenlos gequatscht, Tee getrunken, wieder gequatscht. Sie konnte plappern wie ein Wasserfall, stellte Fragen, plapperte wieder. Lachte ganz viel, grinste, kicherte, war lustig, ernsthaft, albern und konzentriert. Ich war nur hin und weg. Und verliebt, verliebter, ganz verliebt. Es ist selten, dass man einen Menschen kennenlernt und sich sofort mit ihm versteht und pausenlos reden kann. Ich hasse Situationen beim Kennenlernen, die dann verkrampft werden, wenn man schon anfängt ‚...ach ja...!’ zu sagen, weil die Redepause nicht enden will.

 

Als ich im Auto sass auf dem Weg nach Hause stellte ich fest, dass sie ganz viel gesprochen aber nichts gesagt hatte. Nichts über sich. Nichts wesentliches jedenfalls. Meine Fragen nach ihrer Person hatte sie gekonnt überspielte sie oder stellte Gegenfragen.

 

Eine ganz wichtige Frage aber hatte sie mir wenigstens beantwortet: die nach ihrer Handynummer.

 

 

Die Rinildis-Sage

 

 

Im Jahre 1543 wusste längst nicht jeder der einfachen Leute, die damals lebten, dass es das Jahr 1543 war. Bildung, Schrift und Lesen waren damals nicht sehr weit verbreitet unter der Bevölkerung.

Ebensowenig wie das Wissen um Krankheiten. Ärzte und Apotheker gab es nicht. Aber es gab Menschen, die beim täglichen Sammeln von Kräutern in den Wäldern und auf den Wiesen immer mal wieder Gewächse mitnahmen, die sie nicht kannten. Sie probierten diese aus, zumeist an sich selbst, mit einem mehr oder weniger guten Ergebnis, manchmal mit einem krank-machenden oder gar tödlichen.

 

Manche Selbst-Tests aber verliefen so erfolgreich, das diese Menschen die Kräuter auch an anderen, kranken Personen, zumeist aus ihrem Umfeld, dem Dorf oder der nächsten Stadt, ausprobierten. Die Kräuter-Kenner – zumeist Frauen – wurden Hexen genannt und waren so etwas wie die Medizinmänner bei den Indianern oder anderen Naturvölkern. Und sie waren die ersten Ärzte und Apotheker. Man unterschied bereits im Mittelaler zwischen guten –weissen- Hexen und den schlechten –schwarzen- Hexen.

 

Dass ihnen die weisse und die schwarze Magie angeheftet wurden, ergab sich zwangsläufig, denn alles, was die Leute damals nicht verstanden, war Magie. Zaubern konnte in Wirklichkeit  wohl keine Hexe.

Aber schon, wenn ein Mittelchen, dass beim einem gute Wirkung und Heilung gebracht hatte, beim anderen zur Verschlechterung des Gesundheitszustandes führte oder gar zum Tod, wurde aus der guten Hexe ganz schnell eine Böse.

 

 

Rinildis

 

Ganz genau so wie überall war es auch im Herzogtum Kleve am Linken Niederrhein. Kleve lag –und liegt- ca. 10 bis 15 Kilometer entfernt vom Rhein, wobei man annehmen darf, dass viele Menschen, die in Kleve wohnten, in dieser Zeit noch nie am Rhein waren. Ungefähr genausoweit wie an den Rhein im Nord-Osten war es in die heutigen Niederlande (Holland) – circa 20 Kilometer, weshalb das Rheinisch-Platt und die niederländische Sprache in einander und mit einander verschwammen.

 

In dieser Zeit war Lohentin der Hertooge van Cleef, der Herzog van Kleve. Im Jahre 1535 wurde Lohentin eine Tochter geboren, die seine einzige war und blieb und die er nach seinem Namen benannte – Lohentina. Lohentina war nun 8 Jahre alt und er liebte sie sehr.

 

Im für diese Zeit sehr weit entfernten Dörfchen Zwanenhuuse, das in der Nähe des heutigen Ortes Nettetal-Kaldenkirchen lag, holt Rinildis an diesem Tage drei Eier aus dem Nest der beiden Hennen, die in dem kleinen, windschiefen Stall wohnen. Es hat geregnet und der schlammige Boden presst sich beim Gehen mit einem schmatzenden Geräusch zwischen Rinildis nackten Zehen hindurch, als sie vom Stall zurückgeht in die kleine Holzhütte. Sie beeilt sich, denn es ist kalt. Winter. Früh dunkel. Rinildis macht die alte Holztür in der Hütte fest zu und schiebt die zerissenen Jutesäcke und Lumpen wieder in die Ritzen zwischen Tür und Zarge. Ihr Atem kommt als Wolke aus ihrem Mund, während sie dies tut. Sie geht zur offenen Feuerstelle, die gleichzeitig Heizung und Herd ist, und legt Holz nach. Dünne Zweige und kleine Äste, ab und zu ist ein grösseres Stück Holz dazwischen. Als sie das Holz ins Feuer wirft, qualmt es mächtig. Das Holz ist feucht. Es gibt einfach kein trockenes Holz mehr, überall ist es feucht, draussen regnet oder schneit es ständg. Rinildis hält die kleinen schmutzigen Hände ins Feuer, kriecht ganz nah an die Feuerstelle, um sich wenigstens ein wenig aufzuwärmen. Dabei merkt sie, dass ihr Magen schon wieder knurrt. Sie steht auf, holt den grossen Kupferkessel vom Kaminsims und hängt ihn an den grossen, eisernen Haken, der an einer Kette über der offenen Feuerstelle hängt. Sie kratzt den Rest Gänseschmalz aus dem Tontöpfchen, schlägt die Eier auf dem Rand des Topfes auf und lässt ihren Inhalt in den Topf laufen. Schon nach kurzer Zet beginnen die Eier zu brutzeln.

 

Es klopft an der Tür.

“Rinildis, Rinildis, bist du zuhause?“

„Ja Tomasius, warte, ich mache dir auf !“ Rinildis zieht die alten Jutesäcke wieder aus der Türfüllung, hebt den Riegel an und zieht die schwere, knarrende Tür zu sich hin. Eiskalter Wind weht hinein und Rinildis muss husten. Es ist ein bellender, keuchender Husten, ihre Lunge rasselt dabei. Sie pustet sich sofort in die linke Hand, die den eiskalten Eisenriegel emporgehoben hatte und die sie nun zur Faust ballt, um mit ihrem Atem die Hand ein wenig zu erwärmen.

 

Tomasius und sein kleiner Bruder stehen vor der Tür.

„Kommt schnell rein, es ist kalt!“

Hinter den beiden schliesst Rinildis die Tür gleich wieder und stopft die Säcke wieder an ihren Platz. Sie hustet wieder bellend und kann gar nicht aufhören.

„Du bist krank,“ sagt Tomasius, „du wirst noch sterben in deinem Alter. Schon mit vierzehn wirst du tot sein, wenn es nicht bald wärmer wird!“

Rinildis nickt und hustet weiter.

„Es riecht so gut, Rinildis, hast du auch was zu essen für uns? Unser Vater ist schon seit Tagen auf der Jagd und noch immer ist er nicht zurück, wir fürchten, er kommt nie wieder. Vielleicht hat er sich verletzt und liegt nun irgendwo im Schnee und wird sterben! Dann sind wir auch Waisen, wie du Rinildis!“

 

Rinildis nimmt ein Büschel mit getrockneten Kräutern vom Kaminsims und streut diese in den Topf, in dem die Eier braten. Ihr Magen knurrt jetzt so laut, dass auch Tomasius es hören muss.

„Ja, natürlich, es ist nicht viel aber esst nur! Ihr seid noch klein und müsst wachsen.“

Kaum steht der Topf auf dem einzigen Tisch im Hause, stürzen Tomasius und sein kleiner Bruder sich darauf. Rinildis gelingt es gerade noch, einen Löffel von dem gebackenen Ei zu erhaschen, als der Topf auch schon weder leer ist.

 

Als Tomasius und sein Bruder wieder gehen, streichelt der mit der flachen Hand über Rinildis Wange:

„Du bist so hübsch Rinildis, und so gut zu allen Menschen, und du musst so erbämlich leben! Du solltest ausziehen in die Welt und einen Prinzen suchen, der dich zur Frau nimmt, auf das es dir immer gut geht!“

Rinildis lächelt schwach und nickt.

„Das mache ich, Tomasius, sobald ich wieder gesund bin.“

 

Als Rinildis am nächsten Tage aufwacht, ist das Feuer aus. Qualm hängt in der Luft der kleinen Hütte und der erste Atemzug, den sie nimmt, bringt sie gleich wieder zum Husten. Wieder keucht und röchelt sie beim Husten, fasst sich auf die Brust, denn sie tut weh. Es ist eiskalt in der Hütte und der Rest der kleinen Fensterscheibe, der nicht von der zerissenen Decke verhängt ist,  ist gefroren von der Feuchtigkeit im Haus und von ihrem Atem.

 

Mit zitternden Händen und weiter hustend sucht Rinildis die letzten Holzscheite zusammen und macht mit dem letzten Rest Stroh, der noch trocken ist, ein qualmendes Feuer unter dem Topf. Sie öffnet kurz das Fenster und holt etwas Schnee vom Fensterbrett, den sie, zusammen mit Kräutern aus einer Schüssel, in den Topf tut. Auch die Heilkräuter in dem Schüsselchen gehen langsam zu Ende. Es muss unbedingt Frühjahr werden!

 

Rinildis schlürft den heissen Tee aus einer Tontasse. Warm rinnt er die Kehle hinunter in den stetig knurrenden Magen. Sie steht vom Stuhl auf, giesst den heissen Tee in das Gefäss, in dem noch die letzten Reste vom Gänseschmalz sind, und dreht das Töpfchen in kreisenden Bewegungen langsam vor ihrem Bauch, so dass das heisse Wasser auch noch die letzten Rückstände des Gänseschmalzes aufnimmt. Aber auch der fettige Tee kann ihren Hunger nicht stillen. Bellend hustend füllt Rinildis den Rest des heissen Schnee-Wassers in die grosse flache Kupferflasche, das wertvollste Erbe ihrer verstorbenen Mutter, und steckt den Korken wieder in den Flaschenhals. Sie legt die Kupferflasche ins Bett und schichtet Strohsäcke herum, so dass sich die Wärme länger hält und sie eine ebene Liegefläche hat. Dann legt sie sich darauf.

 

Der Tee und die Wärme lassen sie wohlig erschaudern. Schweiss bricht aus auf ihrem Kopf. Ihr wird schwindelig. Hustend und schwitzend schläft sie wieder ein. Aber ihr Schlaf ist unruhig, sie hat einen heissen Kopf und ihr kleiner Körper erzittert unter dem Schüttelfrost. Sie wirft sich im Bett herum, träumt, schwitzt.

 

Rinildis hört, wie sich der eiserne Riegel an der Tür vorsichtig hebt. Langsam geht die Tür knarrend auf. Die Jutesäcke, die sie gegen den Frost in die Ritzen der Tür gesteckt hat, fallen heraus. Rinildis erschaudert! Sie zieht die löchrige, dünne Bettdecke bis unters Kinn, richtet sich im Bett auf und schaut vor Angst bebend zur Tür.

 

Ein eisiger Luftstoss kommt herein, zusammen mit einer in schwarz gekleideten Gestalt, die sich von der schwarzen Nacht hinter der geöffneten Tür kaum abhebt.

In der Hand der Gestalt ein langer Stecken, an dessen Ende ein sichelförmiges Metall im Schein des Mondes, der durch die offenen Tür fällt, kurz aufblinkt.

 

Rinildis schreit auf: „...nein, nein, habt Erbarmen, nicht heute, nicht, bitte nicht, ich muss doch af die Jungs aufpassen! Verschont mich bitte, bitte!“

Ein eiskalter Luftzug fährt scharf an ihrem Hals vorbei, wieder blinkt die Sichel am Ende der langen Stange im Licht, diesmal in dem, das durch das kleine Fenster herein scheint. Dieses Licht wird zu einem grossen, helleren, ein warmer Lichtschein, der den ganzen Raum beginnt auszufüllen, legt sich auch auf Rinildis’ Bettdecke und der schwarze, nur schemenhaft erkennbare Mann weicht einem grossen, gütigen Gesicht und Rinildis hört eine Stimme:

 

“Rinildis, ich höre wohl deine Worte und ich werde dir helfen. Aber nur, wenn du gelobest, fortan dein Dasein den Armen zu widmen und ihnen weiterhin immer hilfst, wie du es auch bisher getan hast. Ich werde dich gesunden und dich mit Gaben belohnen, die sonst niemand hat ausser dir, und du sollst arm bleiben, aber du sollst immer ein warmes Essen haben fortan, wie du es dir wünschest, und dein Geist soll ewig leben, auch wenn dein Körper stirbt. Und du wirst die Kenntnis und die Kunde bekommen, die du für deine Aufgabe brauchest.

Dir wird in der Nacht eine steinalte Frau erscheinen, hässlich von Gestalt und krumm, aber gut im Geiste. Sie wird eine Hexe sein aber eine Gute. Sie wird dich gesunden an meiner Statt und wird dir die Kraft geben, die gleich hernach aus der Alten weichen wird und die dann nur du hast und die du anwenden musst. Und wenn die Zeit des Todes deines Körpers gekommen ist, du sie weitergeben musst an eine, die dessen würdig ist. Wenn die Alte tot ist, wird sie in dir weiter leben und du wirst zur Tür hinaus gehen und den Armen helfen.

Aber nur denen sollst du helfen, denen sonst niemand hilft, und nie Gold oder Reichtümer darfst du annehmen für deine Hilfe. Das musst du geloben. ”

 

Und Rinildis, starr vor Schreck darüber, dass nun anstatt des kalten Sensenmannes eine Gute Kraft zu ihr zu sprechen scheint, sagt: „Ich gelobe all dies und werde Gutes tun für alle Menschen, die Gutes nötig haben!“

 

Rinildis blinzelt in Sonne, deren Strahlen durch das kleine, mit der löchrigen Decke verhangene Fenster direkt in ihr Gesicht scheint.

 

Sonne?

Rinildis schreckt hoch, reibt sich die Augen, ungläubig, springt auf aus dem Bett, ihr Fuss rutscht aus auf der Kupferflasche, die erkaltet am Boden liegt und die sie wie automatisch aus dem Bett geworfen hat, als sie kalt wurde, sie rutscht aus und fällt auf den Steinboden, springt aber sofort wieder auf und rennt lachend ans Fenster, reisst die Decke weg und öffnet es.

 

Sonne!

Es ist warm draussen! Der Schnee ist weg! Nur noch wenig Matsch auf dem Weg vom Haus zu dem kleinen Stall, der grösste Teil des Bodens ist trocken. Rinildis Bauch knurrt. Von den schnellen Bewegungen, die ihr hungriger, schwacher Körper macht,  wird ihr schwindelig. Sie taumelt zur Tür, öffnet sie.

 

Luft, frische, milde Luft.

Vögel piepen.

Es wird Frühjahr. Rinildis eilt in den Schuppen. Sechs Eier! Aber ein Huhn liegt tot im Stall. Rinildis hätte nie ein Lebewesen getötet. Aber nun, wo das Huhn doch schon tot war? Aus den sechs Eieren und dem Huhn bereitet Rinildis ein Festmahl zu, lädt alle aus dem kleinen Dorf  ein, auf das jeder ein Stück Fleisch bekäme. Rinildis bekommt mal wieder am wenigsten ab. Aber das war egal!

 

Es ist warm, es ist Frühjahr.

 

Erst abends, als sie wieder auf ihrer Bettstelle liegt, überlegt Rinildis, wie lange sie wohl geschlafen hatte. Das war doch keine Nacht, kein ganzer Tag, auch keine zwei Tage und Nächte – wie lange hatte sie denn geschlafen?

Müde und nach langer Zeit endlich wieder einigermassen satt sinkt Rinildis auf ihr Bett und schläft sofort ein.

 

„Rinildis, wache auf! So wache auf, ich hab keine Zeit mehr zu warten! Wache doch endlich auf!“

Diese krächzende Stimme hatte sie noch nie gehört und als Rinildis die Augen aufmacht, erschrickt sie. Vor ihrem Bett steht eine steinalte, hässliche Frau, von krummer Gestalt und mit krummen Beinen, auf einen dicken alten Ast gestützt.

 

„Wer bist du, Alte?“ fragt Rinildis, aber die Alte schweigt und hebt nur ihren knochigen Finger in die Höhe. Sofort erhellt sich der dunkle Raum, Rinildis hört ein dumpfes Grollen, dass draussen schnell näher zu kommen scheint. Währenddessen spricht die Alte laut gegen das zunehmende Geräusch an:

“Du bist schön, Rinildis, und du bist jung, und du bist schlau.“

Den letzten Teil Ihres Satzes schreit sie jetzt fast, weil das Geräusch nun so laut wird:

„Du sollst ich sein, mein Geist ist in dir, und mein Geist, der nun deiner sei, wird niemals sterben!“

 

Es gibt einen furchtbaren Knall, die Scheiben des kleinen Fensters zerbrechen, der Tisch beginnt zu wackeln und ein heller Feuerschein fährt in den noch immer ausgestreckten knochigen Finger der Alten. Ein gleissend heller Blitz flammt auf und fährt durch die Alte und es tut einen Knall und eine Druckwelle, dass Rinildis wieder auf ihr Kopfkissen geschleudert wird und ihr schwarz vor Augen wird. Sie sieht noch gerade, wie die Alte lichterloh brennt und sofort zu einem Häufchen Asche auf dem Boden verpulvert.

 

„Rinildis, Rinildis, wach doch auf, wach auf! Darf ich von der Pute essen?“

Und:

„Bitte, bitte Rinildis, wir haben solchen Hunger!“

 

Rinildis schlägt die Augen auf und hört Tomasius und seinen Bruder, wie sie durch einander rufen.

„Was? Was ist los? Pute? Was für eine Pute? Ich habe doch keine...!“

 

Ihr Atem stockt. Die beiden Jungs tanzen aufgeregt vor ihrem Bett herum und zeigen auf den Fussboden, auf dem auf einem Tonteller eine riesige, gebratene Pute liegt. Rinildis schliesst die Augen, reisst sie gleich darauf wieder auf!

„Wo kommt die her?“ schreit sie Tomasius an, „habt ihr die gestohlen? Um Gottes Willen, woher ist die?“

„Nein,“ quiekt Tomasius vor Aufregung, „du hast sie gestohlen, sie liegt doch hier in deiner Hütte!“

 

Und auf einmal erinnert sich Rinildis an die vergangene Nacht.

„...aber, das kann doch nicht sein, das ist doch... das war doch... nur ein Traum!?“ Und dann: „Tomasius, lauf los, hol alle Leute her, die Hunger haben, wir haben zu Essen! Eine ganze Pute! Lauf! Lauf los!“

 

Und Tomasius rennt los. Rinildis setzt sich aus Bett, starrt auf den Boden. Da, wo in ihrem Traum die Alte verbrannte, liegt nun eine Pute, so gross wie ein Pony. Rinildis versucht, sich zu erinnern, was sie geträumt hat.

 

Und während Tomasius Bruder aufgeregt den Menschen, die nun zahlreich und hungrig zu Rinildis Hütte strömen, entgegenläuft, sagt Rinildis mit unsicherer, zitternder Stimme und der Feuerstelle zugewandt:

„...lodere... hier ein Feuer... auf, ... dazu sehr viel Holz ich brauch!“

 

Eine Staubwolke schiesst knallend aus des Esse empor, es gibt einen grellen Lichtschein und als sich der Rauch legt, prasselt ein grosses Feuer im Kamin. Davor und daneben liegen, säuberlich aufgeschichtet, Berge von trocknen Holzscheiten.

 

Rinildis traut ihren Augen nicht.

„Damit... alle statt... hier werden..., bauche Teller ich, ...aus Erden!“ Der Staub schiesst vom Tisch empor, formt sich zu einer Säule, ein heller Lichtschein erscheint und auf dem Tisch stehen nun 14 irdene Teller, alle mit grossen Stücken aus der gebratenen Pute darauf, die zuvor am Boden lag und nun auf einer silbernen Schale mitten auf dem Tisch liegt. Neben jedem Teller steht ein Becher.

 

Rinildis steht auf, wankt benommen auf den Tisch zu und kostet von einem der Becher: „Wein! Es ist ... Wein!“ ruft sie.

 

Tomasius und sein Bruder kommen durch die Tür und bringen 11 Leute aus dem Dorf mit, mit Rinildis zusammen sind sie – 14!

 

„Was ist denn hier passiert?“ fragt Tomasius, „woher kommt der Wein, die Becher, die Teller? Du hast doch nur einen Teller und einen Becher! Und die silberne Schale! Kannst du zaubern? Oder bist du eine Hexe?“sagt er nun eher vorsichtig und weicht bei dem Wort ‚Hexe’ einen Schritt zurück.

 

Während sich die vielen Leute genüsslich und nichts ahnend über das Mahl her machen, sagte Rinildis, leise, mehr zu sich selbst:

„...eine... Hexe!“

 

Rinildis läuft durch die Strassen des kleines Dorfes Zwanenhuuse, bis hinauf zum kleinen Wäldchen und wieder hinunter zum ihrem Häuschen, das am Flüsschen Nette liegt und ruft: „Ihr Leute, wenn ihr krank seit, kommt alle zu meinem Hause, ich heile Euch!“

 

Und nach dem langen, harten Winter sind sie alle krank, und alle kommen auf die Wiese zu Rinildis’ Haus. Mit Zaubersprüchen, die sie von der Alten hat und mit Kräutern, nach denen sie früher lange suchen musste und zu denen sie nun im Wald fast magisch hingezogen wird, und die hier nun in Hülle und Fülle wachsen und gedeihen, gesundet sie alle Menschen aus ihrem Dorf.

 

Unter den Kranken ist auch ein Fremder, ein Kesselflicker, aus dem weit entfernten Cleef am Rhein, der auf dem Rückweg war in seine Heimatstadt. Da er hier kein Haus hatte, nahm ihn Rinildis zu sich in ihre Hütte und versorgte ihn und heilte ihn, bis er sich wieder auf den langen und beschwerlichen Fussweg nach Cleef machen konnte.

 

 

 

Der Hertooge van Cleef

 

Es ist heiss beim Zwanenhuuse, an diesem herrlichen Sommertag, Abkühlung bringt nur das kleine Flüsschen Nette, von dem im Umkreis von nur ein paar Metern ein leichtes Lüftchen die Kühle des Wassers in die Umgebung trägt. Rinildis streicht sich eine blonde Haarsträhne aus dem verschwitzten Gesicht und pflückt die letzten Kräuter, die hier am Bachlauf stehen. Sorgfältig, fast behutsam, legt Rinildis sie in den Weidenkorb neben sich.

 

„Rinildis, Rinildis, komm schnell!“ hört sie von weitem schon Wilhelmus, den Bruder von Tomasius, rufen.

„Was ist denn los, Wilhemus, renn doch nicht so, du wirst hinfallen und dir wehtun! Ist wieder jemand erkrankt?“

„Komm schnell,“ keucht Wilhelmus ganz ausser Atem und lässt sich auf die Wiese am Flüsschen fallen.

„Nein, nicht krank, ...es kommt ... es kommt ... eine ... Kutsche!“ presst er ausser Atem und erschöpft vom Laufen heraus.

„Das ist doch schön, eine Kutsche, das wird bestimmt ein reicher Herr sein, denn wer kann sich schon eine Kutsche und ein oder zwei Pferde davor leisten?“ sagt Rinldis, mehr zu sich selber.

„Ein oder zw... zwei...?“ langsam kommt Wilhelmus wieder zu Atem.

„Vierzehn!!!“ schreit er jetzt. „Vierzehn Pferde sind vor der Kutsche! Und zwei Kutscher sitzen vorne und hinten sitzt ein Diener! Und die Kutsche ist... ist... ist aus Gold!“ ruft Wilhelmus.

„Ach so, aus Gold! Dir ist wohl die Hitze zu Kopf gestiegen, was?“ lachend schaufelt Rinildis eine hand voll Wasser aus der Nette und spritzt Wilhelmus nass.

„Hier, 14 Pferde!“ lacht sie und spritzt noch eine Hand voll Wasser aus dem Flüsschen.

 

„Rinildis, Rinildis!“ Jetzt kommt auch Tomasius angerannt. „Die Kutsche... bei dir... Hütte...!“ keucht er mit letzter Kraft.

„Ein Herr...“ schnauft er, und Tomasius macht eine bezeichnende Bewegung, was wohl dessen Grösse und Umfang angeht, „ein edler Herr... er steht vor deiner Hütte, er will... zu dir!“

„Was, zu mir? Das glaub ich dir nicht Tomasius!“

„Doch, zu dir, geh hin, dann wirst du sehen, er kennt deinen Namen und hat nach dir gefragt!“

 

Recht ungläubig und langsam nimmt Rinildis ihren Weidenkorb mit den Kräutern auf.

„So beeil dich doch, komm schon!“ Die beiden Brüder zerren an den Rocksäumen von Rinildis’ langem Wollkleid für dessen Löcher sie sich nun im Sommer einmal nicht schämen muss, weil sie die herrliche warme Luft hindurch lassen.

 

„Was redet ihr denn...?“ sagt Rinildis, nun doch zunehmend unsicherer werdend.

„Kein Herr will zu mir!“

 

Als sie um die Biegung des Flüsschens kommen, sehen sie bereits vier Männer, die trotz ihrer guten Kleidung Dienstboten zu sein scheinen. Sie füllen hölzerne Eimer mit Wasser und tragen sie eifrig durch das kleine Wäldchen, hinter dem Rinildis’ Haus liegt. Rinildis’ Schritte werden schneller, jetzt rennt sie fast, zieht die beiden Brüder hinter sich her.

 

Und dann sieht sie die Kutsche auch. Vor ihrem Haus steht sie, eine riesige Kutsche, mit sieben Pferden davor auf der rechten Seite der Deichsel, und nochmal sieben auf der linken Seite. Dahinter steht noch eine Kutsche, weniger prächtig, mehr ein Wagen für Dienstboten, mit zwei Pferden. Die gut gekleideten Männer stellen die Wassereimer unter die Hälse der Pferde, die sich gierig danach bücken.

 

Rinildis lässt die Hände der Brüder los, rennt jetzt, fliegt fast zu der Kutsche, hin zum Mann, der ihr am best gekleidesten erscheint und fragt:

„Wer seit ihr, Herr, und was wollt ihr von mir?“

Der Herr lacht schallend: „Ich bin ein Niemand, nur ein Diener! Mein Herr ist drinnen, in deinem Haus, geh nur hin und hab keine Angst!“

 

Vorsichtig geht Rinildis durch die schiefe, offen stehende Holztür, in ihr Haus. Dort, mitten im Raum sitzt ein Mann auf einem prächtigen Stuhl, der vorher noch nicht da war und auch sicherlich nicht ihr gehört. Rinildis stockt der Atem, als sie vorsichtig den rechten Fuss, der noch auf der Türschwelle steht, nachzieht, und in der Tür stehen bleibt.

 

Der Herr, der zuvor zur Decke gesehen hatte, sah nun unmittelbar zu ihr hin. Sein Gesicht schien sich jäh aufzuhellen und mit einem väterlichen Lächeln sagte er:

„Bist du die Rinildis? Ich habe nach geschickt!“

Rinildis nickt schüchertn und stumm und bringt stammelnd heraus:

„Ja,... das bin ich, Herr... was wollt ihr?“

 

Der Herr steht nun von seinem Stuhl auf und geht auf Rinildis zu, reicht ihr die Hand und hält sie fest umschlossen:

„Ich bin Lohentin, der Hertooge van Cleef, und ich bin einen langen Weg gereist, um dich zu finden! Ich habe von dir gehört in meinem Reich, von einem Mann, den du geheilt hast und der an meinem Hofe die Kessel flickt. Dieser Mann hat mir erzählt, wie du bst, und was du kannst, und dass du einem jeden Armen hilfst, der Hilfe braucht und das du die Kranken deines Dorfes alle samt geheilt hast. Und er hat mir erzählt, dass du ihn aufgenommen hast in deinem Häuschen obwohl du ihn nicht kanntest und ihn von deinem wenigen Essen noch abgegeben hast. Und du hast keinen Dank dafür verlangt und keine Goldmünze, nicht einmal eine Silbermünze.

Du musst wissen, Rinildis, ich habe eine Tochter, die Lohentina, sie ist acht jahre alt und sterbenskrank. Ich bin mächtig und reich und ich gebrauche meine Macht und meinen Reichtum, um mein Volk zu regieren. Auch du, Rinildis, bist mächtig und reich, du hast die Macht, Krankheiten zu heilen und den Reichtum deines Geistes, benützt aber beides nur, um den Armen zu helfen, denen sowieso niemand mehr helfen kann.  Ich bin gekommen um dich auf mein Schloss zu holen, wo du die Lohentina heilen sollst mit deiner Kraft, die ich mir nicht erklären kann. Wenn du nicht mit mir kommst, um mein kleines Mädchen zu heilen, so wirst du hier und heute sterben. Wenn du aber mitkommst und die Lohentina von ihrer Krankheit befreist, dann wird ein Halb meines Goldes und Silbers und ein Halb meiner Güter dir gehören und ich werde dich zum Weibe nehmen und dir meinen Namen geben und es soll dir fortan an nichts mehr fehlen in deinem Leben. Aber wenn du meine Lohentina nicht gesundest, wirst du auf dem Scheiterhaufen landen!“

 

Rinildis ist verschüchert. Nicht nur, was der Herr sagt, auch der Herr selber jagt ihr Angst ein. Dennoch sieht sie gütige Augen in seinem Gesicht. Und auch wenn sie sich ihre neuen Fähigkeiten nicht erklären kann, so vertraut sie doch auf diese und geht mit. Es wäre ihr auch kaum etwas anders übrig geblieben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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