kiezschnitt - Kiez, Koks & Kaiserschnitt
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Erschienen am 22.10.2012
bei www.neobooks.com 




Kiez, Koks & Kaiserschnitt


erschienen am 22. Oktober 2011, zunächst als ebook, Erscheinen als Paperback geplant
www.neobooks.com


Es ist tiefschwarze, rote Nacht, die Sterne über dem ausgetrockneten Flussbett der ehemaligen Süderelbe leuchten rötlich bis lila. Zwischen den Punkten der Sterne heben sich mehrere andere ab, schneller größer werdend. Sie sind aufgereiht wie auf einer Perlenkette, blinken, mal schneller, mal langsamer und kommen in rasendem Tempo über das trockene Flussbett geschossen. Sie werden langsamer, die Perlenkette dreht sich um sich selbst, Rauch steigt darunter auf, dann landet die Kette langsam. Einige der Lichter erlöschen, andere blinken weiter, es zischt.
Niemand nimmt Notiz davon.
Es ist niemand da.
Staub wirbelt auf, trockener Staub, es hat seit Ewigkeiten nicht mehr geregnet. Aus dem Nebel tauchen kleine runzelige Gestalten auf in weißen Anzügen. Sie haben altmodische Geräte dabei, die gar nicht in diese Zeit passen: Schaufeln, Spitzhacken, Pinsel und Besen. Sie fangen an zu graben, dort, wo einmal die Elbbrücken standen, damals, als die Süderelbe hier noch floss. Die Schaufeln graben sich in den Boden, jeder Einstich macht ein kratzendes Geräusch, dass durch das Echo vermehrfacht wird. Jeder sorgfältige, vorsichtige Strich mit dem Besen oder dem Pinsel macht ein lautes Echo, das aus dem Nichts widerhallt.
Die Schaufel stößt auf Beton.
Vorsichtig graben die Gestalten weiter, wollen nichts beschädigen, was geschichtsträchtig und historisch –prähistorisch vielleicht- sein könnte. In dem rötlichen Nebel, der über dem staubigen Flussbett hängt, ist nicht alles deutlich zu sehen.
Jetzt graben sie etwas aus. Eine Mumie, konserviert im letzten Rest eines Betonpfeilers der Elbbrücke. Seit Ewigkeiten eingeschlossen, ohne dass Luft sie hätte zersetzen können. Damals nicht. Und heute auch nicht. Heute gibt es keine Luft mehr.
Und keine Elbe.
 
Wie von Ferne sehe ich, wie die Marsmännchen mich wegtragen, auf einer Art futuristischer Tragbahre, die von selber schwebt, durch die rote, staubige, nebelige Umgebung. Endlich raus aus dem Pfeiler, endlich, nach dreitausend Jahren. Das hässliche Loch in meinem Kopf tut schon seit fast zweieinhalb Jahrtausenden nicht mehr weh. Zum Glück haben mich die Luden damals erst erschossen, bevor sie mich einzementierten. So manch einer hat das ohne die erlösende Kugel miterleben dürfen…
 
Im Nebel und im aufwirbelnden, roten Staub hebt das Ufo ab und verschwindet irgendwo zwischen den rot leuchtenden Sternen.
 
Ich wache auf.
Es ist Tag, die Sonne scheint rot durch die roten Vorhänge auf den roten Teppichboden und erleuchtet die roten Tapeten. Nur die schneeweißen Möbel leuchten mich aufdringlich grell an. Ein ganz gewöhnlicher Morgen im ‚Paradies’ in der Danziger Strasse, Hamburg St.-Georg. Nur dass der Morgen hier immer erst mittags beginnt.
Zum Glück ist noch etwas Weißes Glück da, ich mache mir auf dem Tisch mit der riesigen Glasplatte, die von einer splitternackten Meerjungfrau gestützt wird, erstmal eine Nase fertig.
Jetzt seh’ ich klarer.
 
 
Vor­wort - zum bes­se­ren Ver­ständ­nis         
Die­ses Buch ist kein Ro­man.
Es ist ein Rück­blick auf ei­nen wich­ti­gen Zeit­ab­schnitt in mei­nem Le­ben, der sich wirk­lich so­ zu­ge­tra­gen hat.    
Es ist nichts ver­än­dert, nichts be­schö­nigt und nichts hin­zu­ge­fügt.          
Un­we­sent­li­ches ha­be ich al­ler­dings weg­ge­las­sen, weil es Dich wohl nicht in­ter­es­sie­ren wür­de.
Man­che Per­so­nen oder Hand­lun­gen ha­be ich sehr de­tail­liert be­schrie­ben.        Den ei­nen oder an­de­ren mag das lang­wei­len. Ich ha­be es als wich­tig emp­fun­den, be­son­ders die Per­so­nen, die für die Ent­wick­lung der Din­ge wich­tig wa­ren, so gut und ge­nau wie mög­lich zu cha­rak­te­ri­sie­ren. Vielleicht hilft es Dir, mein Leben im so genannten Rotlichtmilieu, das sich einfach so entwickelt hat und in das ich mich ganz bewusst habe reinziehen lassen, zu verstehen.
 
Ich beschreibe in den meisten Kapiteln Dinge, Vorgänge und Erlebnisse, die für jemanden, der diese besondere Welt nicht kennt, vielleicht schwer verständlich oder sogar unverständlich sind. Ich kann nicht davon ausgehen, dass gewissen Vorgänge bekannt sind: „Ich habe mein Auto gewaschen, du weißt schon, wie das geht…“ Darum versuche ich, alles so genau wie möglich zu beschreiben. Nicht als Bastelanleitung für ein verpfuschtes Leben, sondern um den wirklichen Eindruck und auch das Verständnis der Situation zu ermöglichen. 
 
Konju ist ein sehr lieber und warmherziger Mensch, der aber schon durch seine Aussprache seine ausländische Abstammung verrät: „Ab’rr Dick’rr, solltest Du’ss mal sehen, wie ich das wiedder gemacht habbe…“ Konju kann einfach nicht sagen: „Aber Dicker, du hättest mal sehen sollen, wie ich das wieder gemacht habe…“ Darum ist das Buch an manchen Stellen vielleicht schwieriger zu lesen. Aber wenn man sich die Zeit nimmt, kann man in den einzelnen Personen und Passagen aufgehen. Und vielleicht verstehen, warum ich damals so war wie ich war.
 
Die er­schei­nen­den Na­men sind in­ der Re­gel die wirk­li­chen Na­men der Per­so­nen, die ich be­schrei­be. Jedenfalls deren Vornamen. So könnte die von mir beschriebene Ela vielleicht die Ela sein, die bei Dir um die Ecke wohnt, in dem schmucken Reihenhäuschen!? Na­men von Leu­ten, die durch de­ren Nen­nung auch jetzt noch -Jahre danach- Schwie­rig­kei­ten be­kom­men könn­ten, ha­be ich ver­än­dert. Es wird Dir nicht auffallen, Du kennst die Leute wahrscheinlich eh’ nicht. Das än­dert aber nichts an der Au­then­ti­zi­tät der Hand­lung.
In vie­len Ab­schnit­ten be­schrei­be ich Stim­mun­gen.        Das sind die Stim­mun­gen, die ich wäh­rend des Schrei­bens hat­te. So kommt es, das man­che Stücke de­pres­siv und selbst­kri­tisch ge­schrie­ben sind, an­de­re wie­der op­ti­mi­stisch.
Es ist meine Verarbeitung der Erlebnisse, die ich einfach nicht verarbeiten kann.
 
Für je­den Men­schen ist sein in­di­vi­duel­les Schick­sal das be­deu­tend­ste.            
Was man im Le­ben er­lebt oder wie man sich von Schick­sal be­ein­flus­sen lässt, hängt von je­dem selbst ab. Ins­ge­samt ge­se­hen ha­be ich be­stimmt nicht das schlech­te­ste Los ge­zo­gen.            
Aber ich glau­be, dass ich Din­ge ge­se­hen und er­lebt ha­be, die nicht je­der er­lebt.          
Wen die Halb­welt, das Halb­sei­de­ne in­ter­es­siert oder fas­zi­niert –oder gerade auch nicht!- , für den sol­len mei­ne nie­der­ge­schrie­be­nen Er­leb­nis­se in­for­ma­tiv sein, aber auch war­nend.
Je­der muss für sich selbst her­aus­fin­den, wo sei­ne Gren­zen sind und was er sich zu­traut.
 
 
 
Ich ha­be mir sehr viel zu­ge­traut und da­durch viel er­lebt.          
Ich ha­be mir zu­viel zu­ge­traut und bin dar­an ge­schei­tert.           
Ma­te­riell wie psy­chisch.
Aber ich ha­be ei­nes nicht ver­lo­ren.      
Mein Ge­dächt­nis und al­le Er­in­ne­rungen.          
 
Aber manch­mal ha­be ich Angst, mein Ge­dächt­nis zu ver­lie­ren. Ir­gend­wann muss die Spei­cher­plat­te doch mal voll sein, die äl­te­ste Spei­che­rung wird ge­löscht.       
Tilt.
De­tails wer­den ver­ges­sen oder falsch wie­der­ge­ge­ben.
Da­vor ha­be ich Angst. Des­halb schrei­be ich al­les auf.
Und weil es mich ent­la­stet.      
Je­den Tag, an dem ich schrei­be, füh­le ich mich da­nach er­leich­tert. Je­den Tag ein Stück Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung, Ver­ar­bei­tung von al­lem, was ich in fast sechs Jah­ren in­ Ham­burg, der - von vie­len so­ be­zeich­net - schön­sten Stadt Deutsch­lands, und in­ zwei Jah­ren des stän­di­gen, täglichen Dro­gen­kon­sums und des rei­chen Geld­se­gens ver­drängt ha­be.
Ich glau­be an das Schick­sal, den vor­be­stimm­ten Weg.            
Da­von las­se ich mich auch heu­te noch len­ken. Ich bin nicht religiös und glaube nicht an Gott oder eine ähnliche, übergeordnete Macht. 
Das Schick­sal hat ge­wollt, das ich noch lebe.  
 
Da­mit so etwas nicht wie­der ge­schieht, muss ich das Erlebte erst ein­mal be­wäl­ti­gen, ehe ich mir ei­ne neue Zu­kunft auf­bau­en kann.
Ei­ne Zu­kunft aus dem Nichts, aus ein paar Hab­se­lig­kei­ten, die ei­nem einst rei­chen Mann, der so gern ein Großer sein woll­te auf dem Ham­bur­ger Kiez - dem schön­sten Fleck­chen Er­de, das ich bis­her ken­nen­ge­lernt ha­be -, ge­blie­ben sind.


 

 

Am 27.5.1998 ist meine Mutter gestorben.

 

Sie hat sich das Leben genommen.

 

Zumindest hat sie es versucht. Genau wie ich, anderthalb Jahre später. Bei ihr hat es auf die ein oder andere Weise dann doch geklappt. Und ich sitze immer noch hier, habe Hunger, kein Geld und schreibe mein Leben auf.

 

Sie hat Schlaftabletten geschluckt. Abends. Allein zuhause in ihrem Haus in Krefeld. Sie hat alles geordnet vorher. Meine Mutter war ein Vorbild an Ordnung, Akkuratesse und Sauberkeit. Sie hat alle Unterlagen beschriftet, zusammengelegt, so dass ich problemlos alles finde.            Ich wusste mit einem Griff genau, wofür die Unterlagen waren, die ich in der Hand hatte und was ich damit machen musste.

Sie musste oft geweint haben, als sie ihren Tod so sorgfältig vorbereitete.

Sie hatte die Rollläden geschlossen im ganzen Haus, es war Abend, als sie die Tabletten eingenommen hatte. Sie hatte wohl auch Wein dazu getrunken. Das hat der Arzt später festgestellt. Und dann alles ordentlich wieder abgewaschen.

 

So haben Nachbarn morgens das Haus vorgefunden, als sie sahen, dass um eine Zeit, als meine Mutter längst wach hätte sein müssen, die Rollläden noch geschlossen waren. Sie hatten geklopft, geklingelt. Meine Mutter war wohl wach geworden aus ihrem Dämmerzustand, hat gerufen, war zu schwach, sich aus dem Bett zu erheben. Hat es dann doch versucht und ist auf dem Boden liegen geblieben.

Nachbarn haben sie gehört, den Schlüssel ausgegraben, der säuberlich in Alupapier gewickelt in einem Butterdöschen lag, eingegraben im Garten unter einer Gehwegplatte, hinten an der Garage. Ein Versteck, auf das kein Einbrecher kommen konnte. Da lag er schon, so lange ich denken konnte. Für alle Fälle.    

Ich habe ihn selbst ein paar Mal gebraucht, wenn ich mich ausgesperrt hatte, als ich noch zuhause wohnte, oder als ich einmal meinen Schlüssel verloren hatte. Er lag immer da. Auch jetzt.

Sie wurde mit dem Notarzt ins Krankenhaus gebracht, der stellte schnell die Medikamenten-Überdosis fest.

 

Sie hatte wieder Krebs.          

Schon früh waren ihr die Brust amputiert worden, erst die eine, später die andere.

Auch mein Vater war an Krebs gestorben.

Ganz früher mal, nach dem Krieg, war er Verkehrspolizist gewesen. Da hatten die Autos noch keine Katalysatoren. Niemand hat sich um so was gekümmert. Die ganzen Abgase musste er wohl täglich einatmen, dann hat er auch noch geraucht.

 

Nachbarn riefen mich an in Hamburg, Deine Mutter ist im Krankenhaus. So erfuhr ich es. Ich bin aber erst zwei Tage später hingefahren, wo ich sowieso frei hatte. Ich war ein gefühlloser, rücksichtsloser Sohn.

‚Kalt und hartherzig’, hatte meine Mutter das öfters mal –aber in einem anderen Zusammenhang- genannt. So war ich immer schon.

 

Heute bereue ich es.

 

Als ich sie zum letzten Male besuchte, im Krankenhaus in Krefeld, war sie anders als sonst. Komisch. Nachdenklich. Ich konnte da damals nicht rchtig bewerten. Sie erzählte von unseren gemeinsamen Urlauben: „...weisst du noch, als wir damals mit Papa an der ostsee waren? Auf Fehmarn? Als Papa die schönste sandburg gebaut hat, mit der grossen Meerjungfrau darauf, und wir den ersten Preis gewonnen haben?“ Ja, wusste ich noch, ich war damals fünf oder so, ich wusste es eigentlich auch nur, weil wir noch Fotos davon hatten.

„... und weisst du noch, als du damals eingeschult wurdest? Wir haben noch Fotos davon, schau sie dir nochmal an, mit Susanne und dir darauf. Susanne war immer schon ein hübsches Mädchen, sie hatte ganz lange schwarze Haare, zu langen Zöpfen geflochten. Weisst du das noch?“ Ja, wusste ich noch, ich war sechs, ich wusste es eigentlich auch nur, weil wir noch Fotos davon hatten.

„...und weisst du noch, damals, da warst du fünfzehn, das war so ein Jahr nachdem Papa gestorben war, da warst du einmal so bose mit mir, da bist du in den Keller gegangen und hast eine Axt herauf geholt und in dein Zimmer gestellt, weisst du das noch?“ Nein, weiss ich nicht mehr, da haben wir keine Fotos von, ausserdem war es ein Beil.

Meine Muter hatte in ihrem ganzen Leben nie wieder mit mir über diesen Vorfall gesprochen. Warum jetzt? Sie liess in meiner Gegenwart ihr ganzes Leben revue passieren, zumndest den Teil ihres Lebens, den ich miterlebt hatte. Ich konnte mit der Situation nichts anfangen, damals, heute weiss ich, dass sie mir vor ihrem Tode nocheinmal alles, was wir zusammen erebt haten, bewusst machen wollte. Mir war das alles sehr unangenehm. Auch wenn es mir an diesem Tag in dem Krankenhauszimmer in Krefeld nicht wirklich klar war, ahnte ich doch wahrscheinlich unterschwellig, dass ich an ihrem Totenbett sass.

 

Nach einiger Zeit ging ich, das Totenbett unbewusst (oder bewusst?) verdrängt. Ich verabschiedete mich mit Worten wie ‚...gute Besserung’, ‚...bis nächste Woche dann...’ oder so ähnlich. Ich weiss heute verdammt nochmal nicht mehr, ob ich damals geahnt oder gewusst hatte, dass ich sie nie mehr wieder sehen würde. Ich denke, dass ich es geahnt haben werde, aber nicht wahrhaben wollte.

 

Wie verabschiedet man sich denn von einem sterbenden Menschen? Wer sagt einem, wie das geht? Wer bringt einem das bei?

 

Am siebenundzwanzigsten Mai Neunzehnhundertneunundneunzig, kurz nach Muttertag, ist sie im Krankenhaus gestorben.

 

Ich hatte frei, in dieser Nacht. Ich war in Hamburg. War mit Susi unterwegs, Susi Brinkmann, wir kamen, glaube ich, gerade vom Essen.

Das Handy klingelte. Ich war kurz vor der Wohnung, der Bums-Fick-Chaos-WG mit Panja über dem "Girlie’s" auf dem Kiez. Es war zwei Uhr nachts.

 

"Städtische Krankenanstalten Krefeld, hier guten Abend."           

Mir lief ein Schauer Über den Rücken.            

"Herr M., sie müssten mal nach Krefeld kommen...."         

Stille.   

Ich: "Ehh, ja, was...!?"

"Es tut mir leid, -stocken- ... Ihre Mutter ist...-Pause- ... heute Nacht ... verstorben!"

 

Es war warm in dieser Nacht.

Ich saß mit Susi in meinem Zimmer in der WG.           

Sie versuchte mich zu trösten. Es ging mir gar nicht so schlecht.

Ich hab es erst viel später realisiert.

 

 

 

Die Erbschaft

 

Was meine Mutter eigentlich zu vererben hatte, wusste ich nie genau, ich hatte auch keine Vorstellung davon.

Nach ihrem Tod hängte ich alle Spiegel in ihrem Haus in Krefeld ab. Das hatte ich irgendwo mal gesehen oder gelesen. Es soll den Sinn haben, dass der Geist des Toten sich nicht spiegelt und somit keine Ruhe findet. Ich weiss nicht, ob das auch so ist, wenn der Tote gar nicht in diesem Haus bestorben ist. Meine Muter war im Krankenhaus gestorben.

Bis zur Beerdigung muss man das machen. Silvia, meine verflossene Freundin aber imer noch beste Freun din,  fand das auch eine sehr gute Idee. Und wenn Silvie das gut findet, ist es gut!

   

Ich wusste, wo die Papiere meiner Mutter aufbewahrt lagen und sah sie durch. Es kam mir fast vor wie Leichenfledderei. Aber ich musste es doch tun. Es musste weitergehen. Ich fand Sparbücher. Mit Beträgen darauf, von denen ich zu träumen nie gewagt hätte!

Meine Mutter war sparsam. Nicht geizig. Sparsam.

 

Sie sagte so oft:

„Ach, das kostet wieder einen Haufen Geld, ich weiß bald nicht mehr wo ich es hernehmen soll..!“

Ehrlich gesagt, ich dachte, dass meine Mutter mal gerade so über die Runden kam. Ja, wir hatten ein eigenes Haus in einer schönen Gegend, sie hatte ein Auto, schöne Anziehsachen, die sie zumeist selber schneiderte. Es schien zu klappen, nur, dass viel übrig blieb, dachte ich nicht.

Ich ging zur Sparkasse in Krefeld-Stahldorf, wo unsere Familie schon seit ich denken kann ein Konto hatte.

 

‚Ja, auflösen und überweisen auf mein Konto in Hamburg, nein, ich komme nicht wieder nach Krefeld, ja, das Haus werde ich verkaufen’.

„Ja,“ sagte der Filialleiter, der mich und meine Geldgeschichten aus langer Erfahrung kannte, „sehr traurig, das mit Ihrer Frau Mutter! Seien sie vorsichtig mit dem Geld, sie wissen, dass sie nicht so ein sparsamer Mensch sind wie Ihre Frau Mutter!“ Er verschwand nach hinten in einen Büroraum und kam mit einer Akte zurück. Er knallte einen Stempel „Aufgelöst“ darauf und öffnete sie.

„Sie wissen, dass Ihre Frau Mutter ein ansehnliches Wertpapierdepot hatte, nicht wahr?“

 

Ein - was??

War das noch nicht alles, die vielen Sparbücher mit den zumeist fünfstelligen Summen darauf??

Als er mir die Rechnung aufmachte, viel ich fast hinten über.

 

Meine Mutter hatte mir ein Vermögen hinterlassen!

 

Zunächst dachte ich noch darüber nach, das Haus nur zu vermieten, aber ich wollte doch nun etwas erreichen! Mit eigenem Geld! Ich würde es gut investieren und anlegen, sodass es sich schön vermehrt. Arbeiten würde ich ab jetzt natürlich nicht mehr! Das Geld würde fortan für mich arbeiten. Endlich Geld. Nie mehr klamm. Alle Rechnungen sofort bezahlen können. Und leben können. L E B E N – nicht überleben!

 

Irgendwie hab ich es mir dann doch anders überlegt. Leider. Leider reizte es mich mehr, die Kohle nicht auf dem Konto sondern in der Hosentasche zu haben.

 

Die neuen Eigentümer des Hauses übernahmen auch gleich noch das nicht ganz billige Inventar meiner Mutter, dafür gab’s noch mal einen fünfstelligen Betrag obendrauf.

Ich habe alles verkauft, zu Geld gemacht. Geld, das Zeug, mit dem ich schon früher nicht umgehen konnte.

Alles zusammengezählt war ich – REICH!! Steinreich!

 

Millionär.

 

 

 

Ich konnte mein Glück nicht fassen. Vorbei und vergessen war zunächst einmal die schmerzvolle Entbehrung meiner Mutter, der ich zu Lebzeiten nie gesagt hatte, wie sehr ich an ihr hing und sie liebte.

 

Ich kündigte bei Hans im Girlie’s, kündigte auch die schäbige Bude, in der ich zuvor mit Panja gehaust hatte und mietete eine Loft-Etage im Stadtteil Eilbek an. Neu ausgebaut, Erstbezug. Kaufte mit Susi Brinkmann im gleichnamigen Laden die teuerste Küchenausstattung, die ich ergattern konnte, alles in matt-geschliffenem Metall. Herd, Kühlschrank, die lang ersehnte Spülmaschine.

 

Ein neues Auto musste auch her, zu meinem neuen Leben passend. Ich bestellte einen Smart mit allen Schikanen, die zu der Zeit, dass er gerade neu auf dem Markt war, erhältlich waren und erst einmal eingebaut werden mussten. Das dauerte zwei Wochen.

Genug Zeit, um diesem Kauf noch einmal zu überdenken! Ein SMART? Ich war steinreich!! Und ich wollte groß was aufziehen, auf dem Kiez, natürlich! Da, wo ich hingehöre, wo meine Family nist!

 

 

Den Smart-Vertrag kündigte ich also auch mal ganz schnell wieder. Dafür gab es einen Merser! 560ger, SEC, ein Coupe, mit Schikanen, die es für den teuersten Smart nicht gab!

 

Leben geht los!

 

 

 

 

Koks - der Stoff, aus dem die Träu­me sind           

 

Ein Tag wie je­der an­de­re.       

Ei­ner aus der end­los lan­gen Rei­he de­rer ge­grif­fen, die wie al­le wa­ren.  

Breit, weiß und lang. Wie die Li­nes, die ich in die­sen Ta­gen kon­su­mier­te.

 

Tür zu­, Schlüs­sel von in­nen ins Schloss, Jacke ei­lig aus­ge­zo­gen und über den näch­sten Stuhl ge­schmis­sen. Sie fällt run­ter. Egal. Frü­her war ich so­ or­dent­lich. Und jetzt. Die Loft­woh­nung in­ Ham­burg-Eil­bek sieht aus wie ein Hand­gra­na­ten­wurf­stand nach der Ge­fechts­ü­bung.

 

Ich nest­le in der Ho­sen­ta­sche rum. Au­to­schlüs­sel, Ta­schen­tuch (wich­ti­ges Uten­sil), ein schwar­zen Pla­stik­röhr­chen, das mal ein Ku­gel­schrei­ber in SlimLi­ne-Form war, kom­men zum Vor­schein. Da hab ich sie! Ei­nes war in dem Ta­schen­tuch­knäu­el, die an­de­ren zwei fin­de ich in der Ho­sen­ta­sche, die ich über der Tisch­plat­te nach links keh­re. Krü­mel fal­len raus, Sand­krü­mel und auch ein paar ganz klei­ne weiße. War wie­der eine Tü­te un­dicht. Ich setz­e mich an den weißen Tisch, brau­che ei­ne far­bi­ge Un­ter­la­ge, weiß auf weiß siehste nicht.        

Ei­ne Zeit­schrift muss her. Wie­der auf­ste­hen, zum Couch­tisch, der die Fi­gur ei­ner nackten Meer­jung­frau dar­stellt, die die Glas-Tisch­plat­te hält.   

Letz­te Wo­che ge­kauft, gün­stig, nur tau­send Mark! Ich hab’s ja, kein Pro­blem. Wie­der hin­set­zen. Das ist wich­tig. Wer kokst, ist schnell außer Pu­ste, hat nicht viel Kon­di­tion. Mit der Na­gel­sche­re schnei­de ich ei­nes der drei klei­nen Beu­tel­chen aus grün­li­cher Pla­stik­tü­te auf, in der der Tür­ke an der Ecke sonst im­mer das Ge­mü­se und die an­de­ren Ein­käu­fe füllt.   

Das ist ne­ben den auf­wen­di­ger herz­u­stel­len­den Pa­pier-Brief­chen ei­ne der han­dels­üb­li­chen Dar­rei­chungs­for­men. Vor­sich­tig stül­pe ich sie um, weißes Pul­ver, et­wa wie Wasch­pul­ver, fällt zu ei­nem Häuf­chen auf die Zei­tungs­un­ter­la­ge. Ich sto­che­re vor­sich­tig mit der Sche­re dar­in he­rum. Auch klei­ne und größere, ganz feste Klümp­chen sind da­zwi­schen. Es glit­zert ein we­nig mi­ne­ra­lisch. Gu­tes Zeug! End­lich, letz­tens war’s eine gan­ze Zeit lang be­schis­sen.

 

Letztens war es gelb­lich, klum­pig und zäh, blieb im Röhr­chen hän­gen und ver­stopf­te es. Mit Ben­zol ge­wa­schen. Knallt, aber schmeckt nach Ben­zin und riecht ge­nau­so.      

Die­ses ist klas­se. Das fei­ne Pul­ver tren­ne ich säu­ber­lich von den Bröck­chen, die "Stei­ne" heißen, neh­me die Te­le­fon­kar­te und zie­he mit ge­konn­ter, si­che­rer und im Mo­ment gar nicht zit­tri­gen Hand ei­ne Li­nie. Sie wird et­was län­ger. Un­ge­fähr fuffzehn Zen­ti­me­ter, und so drei bis vier Mil­li­me­ter breit. Schät­ze ich. Mit der Zeit kriegt man ein Au­ge da­für. Und das war schon die Hälf­te von ei­nem Säck­chen. Ein hal­bes Gramm al­so.

Mit dem Dau­men verschließe ich das rech­te Na­sen­loch, mit Zei­ge- und Mit­tel­fin­ger füh­re ich das schwar­ze Pla­stik­röhr­chen ins lin­ke.

 

Bis oben rein, sonst bleibt al­les in den Nasenhär­chen hän­gen. Lang­sam und gleichmäßig ein­snie­fen. Da­bei be­we­ge ich das Röhr­chen von rechts nach links über die Li­nie, die, nach dem das Röhr­chen sie ge­streift hat, ver­schwun­den ist. Röhr­chen weg­le­gen, mit Zei­ge- und Mit­tel­fin­ger zie­he ich den rech­ten Na­sen­flü­gel von der Na­sen­schei­de­wand weg und zie­he hoch, das rech­te Na­sen­loch im­mer noch ver­schlos­sen. Hoch. Ganz hoch, bis das Weiße Glück oben ge­gen die Wand der Stirn­höh­le knallt. Ich schlucke. Bit­ter! Ganz stark bit­ter. Edel­bit­ter!

 

Ich muss hu­sten, auf­pas­sen da­bei, das kein Schleim her­aus­fliegt, da wä­re dann wo­mög­lich das ge­ra­de ge­nos­se­ne Hal­be drin! Das wä­re nun wirk­lich die pu­re Ver­schwen­dung. Ich schlucke. Lang­sam rinnt das Zeug edel­bit­ter den Gau­men und die Spei­se­röh­re hin­un­ter. Nach kur­zer Zeit be­täubt dann die­ses Ge­biet ein we­nig. Wenn das Zeug mit Li­do­kain ge­streckt ist, ein Betäubungsmittel aus der Zahnarztpraxis. Dann kann’s ja nicht schlecht sein, denn wie hiess es früher in der Fernsehwerbung?  „...das gibt der Zahn­arzt sei­ner Fa­mi­lie“.

 

Es war nö­tig. Ich hab län­ger nichts mehr ge­habt. Be­stimmt schon drei oder vier Stun­den nicht. Des­halb jetzt ein größeres Näschen. Kann ja nicht scha­den. Drin ist drin, das nimmt Dir kei­ner mehr weg. Gleich noch ein klei­ne­res hin­ter­her, fürs an­de­re Na­sen­loch.

Jetzt bin ich ru­hi­ger. Koks wirkt so­fort, nach Mi­nu­ten, Se­kun­den. Die Hän­de sind ru­hig, mir wird wohl­ig warm ums Herz und im Bauch. Gut ist, das noch ei­ne gan­ze Men­ge da ist. Fri­sche La­dung. Schlecht ist, wenn’s zur Nei­ge geht. Dann kriegst Du Such­an­fäl­le, kriechst auf dem Bo­den rum, je­des weiße Körn­chen, und selbst wenn’s vom Früh­stücks­bröt­chen von vor drei Wochen ist, siehst Du als Koks an. Wenn Du kei­ne Koh­le hast um Nach­schub zu ho­len, wird’s noch schlim­mer. Das kennt jeder Junky. Ich bin keiner.     

 

Wenn Du Koh­le hast, holst Du Nach­schub.    

Ich hat­te im­mer Koh­le.

Da­mals.

 

 

Die Kin­der vom Bahn­hof Stein­damm -oder- Der Andere Ham­bur­ger Strich

 

Es nie­selt. Sagt man das ei­gent­lich über­all in Deutsch­land? Nie­seln heißt, es regnet ein biss­chen, ganz leicht, es sprüht, kein rich­ti­ger, regelmäßiger Re­gen, den man wirk­lich als sol­chen be­zeich­nen könnte. Im Rheinland heisst das Nieselregen.

Es ist ir­gend­wann mit­tags oder nach­mit­tags, im De­zem­ber Neun­zehn­hun­dert­ach­tund­neun­zig. Das Au­to ha­be ich ein paar Stra­ssen wei­ter ab­ge­stellt. Ich ge­he den kur­zen Weg zu­rück, durch das Vier­tel, in dem ei­gent­lich das Nach­le­ben von Ham­burg-St.-Ge­org statt­fin­det.

Wenn es Nacht ist.

Nun ist Tag.

 

Der Stein­damm ist ei­ne be­leb­te Ein­kaufs­stras­se, nicht wirk­lich für Ham­burg-Tou­ri­sten ge­eignet, eher die Ein­kaufs­stras­se für Leu­te, die hier woh­nen. Du kannst hier tür­kisch, ju­go­sla­wisch und ma­rok­ka­nisch es­sen ge­hen und ein­kau­fen, vie­le selbst­er­nann­te Ju­we­lie­re aus dem Li­ba­non und Ara­bien sind hier an­säs­sig, Ki­nos, Por­no-Ki­nos und Sex-Shops, ein Ge­schäft für Out­door-Be­klei­dung, Gay-Shops, Döner-Buden. 

Sün­di­ges Le­ben und Trei­ben ver­mischt mit ei­nem ober­fläch­li­chen An­ge­bot von al­lem, was Men­schen außer Sex noch brau­chen oder auch nicht brau­chen.

Der „Klei­ne Kiez“.

Der Stein­damm war damals ei­gent­lich eine zwei­spu­ri­ge Ein­bahn­stra­sse, ge­pfla­stert, in der Mit­te, zwi­schen den zwei Fahr­strei­fen ein schma­ler, öf­ters un­ter­bro­che­nen Grün­strei­fen, auf dem jun­ge Bäu­me wuch­sen, auch lee­re und zer­tre­te­ne Co­la­do­sen, Zi­ga­ret­ten­kip­pen und weg­ge­wor­fe­nes Um­schlag­pa­pier von Döner-Bro­ten und Ham­bur­gern gediehen hier prächtig. Links von der ei­nen und rechts von der an­de­ren Fahr­bahn konnte man par­ken. Wenn man denn tags­ü­ber ei­nen freien Park­platz fand, zwi­schen den so­wie­so ge­park­ten Au­tos der Ein­kau­fen­den, Sex-Shop-Be­su­chern und An­woh­nern und den tür­ki­schen Lie­fer­wa­gen, die stän­dig be- und ent­la­den wur­den und ei­nen gan­zen Fahr­strei­fen blockie­rten und ei­nen Stau ver­ur­sa­chten, weil sich der Stein­damm nach hin­ten hin, Rich­tung Haupt­bahn­hof, auch noch von den bei­den Fahr­strei­fen zu ei­nem ver­jüngte, an des­sen En­de dann auch noch ei­ne Am­pel stand, die ei­gent­lich im­mer, wenn man dort an­kam, rot war und in ih­rer Grün­pha­se höch­stens drei Au­tos über die Kreu­zung liess.

Tags­ü­ber herrschte al­so im­mer Hoch­be­trieb auf dem Stein­damm, ein we­nig Sex-At­mo­sphä­re gemischt mit Orient-Fee­ling, zwi­schen all den Men­schen aus al­ler Her­ren Län­der.

Such ihn nicht, meinen Steindamm von achtundneunzig, heute sieht er anders aus.

Man will das Schmuddel-Image weg kriegen aus Hamburg, gerade in Bahnhofsnähe, wo all die Touris rumlaufen. Schlecht, wenn der Tourist im sowieso unübersichtichen Hausptbahnhof die Seiten verwechselt und statt Richtung schicker Mönckebergstrasse, wo es die schicken Pelzmäntelchen gibt, auf einmal mit der Gattin im schicken Pelzmäntelchen auf dem schmierigen Steindamm steht.

Doof auch, wenn der Gatte von Pelzmäntelchen dann gleich von ner minderjährgen Prostituierten angequatscht wird, die noch den Gürtel um den Oberarm und die tropfende Pumpe (Jargon für Spritze) in der Hand hat. Das wollte der schicke Senat der schicken Stadt Hamburg künftig vermeiden und hat den alten Steindamm weggemacht. Die Pelzmäntelchen hat er nicht weggemacht, der Senat.

Der Re­gen spie­gelt sich auf dem Kopf­stein­pfla­ster des Stein­dammes - des damaligen Steindammes. Denn auch as Kopfsteinpflaster haben sie weggemacht.

Ich ge­he über die Fahr­bahn, weil der Fußweg voll ist mit Men­schen.

 

Ich su­che Jen­ny.       

Ich ken­ne sie viel­leicht seit ei­nem hal­ben Jahr, war schon öf­ters bei ihr. Ich ha­be sie lan­ge nicht mehr hier ge­se­hen, im Re­vier, manch­mal ist sie da, manch­mal nicht. Dann hab ich auch ei­ne zeit­lang gar nicht nach ihr ge­sucht. Ich hat­te kei­ne Lust oder hat­te ein­fach an­de­res zu tun.

Aber heu­te su­che ich sie eben.         

 

Das Koks von Kon­ju war gut, die Nacht zu­vor ha­be ich des­halb oh­ne Pro­ble­me durch­ge­macht. Wenn ich ge­schla­fen ha­be, lan­ge ge­schla­fen - denn wenn Du zwei oder drei Ta­ge durch­ge­kokst hast, kannst Du lan­ge schla­fen - auch ein bis zwei Ta­ge - dann brau­che ich fast im­mer ei­nen gan­zen Tag, um wie­der auf mein Le­vel zu kom­men. Am An­fang des zwei­ten Ta­ges dann bin ich wie­der rich­tig gut drauf, und noch nicht so körperlich erschöpft, wie man es nach meh­re­ren Ta­ge des Wach­seins ist, aber auch nicht mehr so „ge­ra­de eben erst drauf“, wie man es nach den er­sten Na­sen nach dem langen Schlafen ist.

 

Ich ha­be jetzt Bock auf Jen­ny.         

Ich ha­be sie auch da­mals hier kennen gelernt, auf dem Stein­damm, als ich mein Au­to park­te in ei­ner der zu­fäl­lig ge­ra­de frei­ge­wor­de­nen Schräg-Park­buch­ten mit­ten auf dem Stein­damm. Als ich vor­wärts in die Lücke rein ­ge­fah­ren bin, stand sie vor mir, ge­gen­ü­ber, im Haus­ein­gang.

Al­le Mäd­chen ste­hen hier in Haus­ein­gän­gen, vor Haus­tü­ren. Ste­hen ein­fach da rum. Frü­her, ganz frü­her, als ich nach Ham­burg ge­kom­men war, hat­te ich mich ge­fragt, was all die­se Mäd­chen dort ma­chen in den Haus­ein­gän­gen, auf wen sie wohl war­te­ten, in je­dem Haus­ein­gang ei­ne.

Nun weiß ich, auf wen sie war­ten.

Auf Freier.

Auch Jen­ny ist ei­ne Hu­re.

Freier, mit de­nen sie das schnel­le Geld ver­die­nen, für mehr oder we­ni­ger loh­nens­wer­te Lie­bes-Schau­pie­le, denn als „Dien­ste“ kann man heut­zu­ta­ge ei­gent­lich die Hu­ren­ar­beit nicht mehr be­zeich­nen. In Hamburg ist es vorwiegend Abzocke, egal, ob hier auf dem Steindamm oder auf der Reeperbahn.

 

Hier auf dem Steindamm ste­hen über­wie­gend Jun­kies, jun­ge Mäd­chen, die sich hier ih­re Koh­le für den näch­sten Stich, das näch­ste Blech oder die näch­ste Pfei­fe ver­die­nen. Die Girls hier auf St.-Ge­org sind al­le auf Koks oder He­ro­in oder Speed oder Crack.

Jun­ge Mäd­chen.

 

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Jackys Vormund

Ei­nes Ta­ges, ich war im Au­to un­ter­wegs nach Lü­beck, bim­mel­te das Han­dy.           

Ich hör­te Achims Stim­me, nicht oh­ne Ge­nug­tu­ung, durch den Hö­rer:

“Du musst mal ganz schnell her­kom­men in die Pen­sion, die Schmie­re ist hier, mit Jackys Mut­ter! Sie wol­len Jacky ab­ho­len und sie fra­gen, was sie hier zu su­chen hat!“ In die­sem Mo­ment hat­te ich so­gar Achim zu­ge­traut, das er die Schmie­re an­ge­ru­fen hat­te und Jackys Mut­ter.

Aber Achim hät­te mir nie ernsthaft scha­den wol­len.

Da­zu war er doch zu sehr mein Freund.

Und ein gu­ter Freund war er.

Trotz­dem konn­te ich sei­nen scha­den­fro­hen Un­ter­ton hö­ren, als ich die Pen­sion be­trat.

 

Draußen, gleich vor der Tür und ei­lig ab­ge­stellt, hat­ten zwei Pe­ter­wa­gen ge­stan­den, ich hastete die Treppenstufen hinauf. Als ich die Tür zur Pen­sion auf­schloss, kam mir gleich ein Bul­le ent­ge­gen, der wis­sen woll­te, wer ich war. Ein wei­te­rer war­te­te im Bü­ro und hat­te wohl schon mit Achim ge­spro­chen, zwei an­de­re ver­sperr­ten mir den Weg auf dem Gang zu Jackys Zim­mer, der vom Flur ab­zweig­te.

So viel Polizei in der Pension Konig – das sah nicht gut aus!

 

Nach­dem ich mich als Be­sit­zer der Pen­sion vor­ge­stellt und mich aus­ge­wie­sen hat­te, er­klär­te mir ei­ner der bei­den Be­am­ten, die mich daran gehindert hatten Jackys Zimmer zu er­rei­chen, dass ge­ra­de ein Ju­gend­schutz-Mit­ar­bei­ter und Jackys Mut­ter in de­ren Zim­mer wa­ren und mit ihr spra­chen.

Ich muss­te war­ten.

Ein­er­seits mach­te ich mir Sor­gen um Jacky, woll­te nicht, dass sie zu­rück muss­te zur Mut­ter, wo es nach Ih­ren An­ga­ben je­den Tag Schlä­ge der wech­seln­den Freun­de der Mut­ter, und ständig Kon­trol­le und Är­ger. An­de­rer­seits mach­te ich mir ein we­nig Sor­gen we­gen der vie­len Po­li­zi­sten und überdachte mei­nen Sta­tus in die­ser Sa­che:                 

Ich be­her­berg­te wis­sent­lich ei­ne min­der­jäh­ri­ge Pro­sti­tu­ier­te, die in mei­nen Räu­men Dro­gen kon­su­mier­te. Beim Staats­an­walt müss­te das für ei­ne An­kla­ge we­gen Verstoßes ge­gen das Ju­gend­schutz­ge­setz rei­chen und zur Beihilfe zur Drogenbeschaffung, wenn sie mir nicht gar et­was an­hän­gen wür­den we­gen Zu­häl­te­rei oder ähn­li­chem, mein Zu­trau­en in den Ju­stiz­ap­pa­rat war seit je­her schon eher schwach.

 

Ich er­zähl­te al­so, wo­her ich Jacky kann­te und was ich von ihr wuss­te. Der Po­li­zist in Zivil hör­te sich mei­ne Dar­stel­lung der Ge­schich­te an und schien sie - für mich er­staun­lich - auch zu be­grei­fen und zu ver­ste­hen. Ich sah ein klei­nes Licht am Ju­stiz-Ho­ri­zont.           

Denn von Jacky, die ich mitt­ler­wei­le aus un­se­ren vie­len und in­ten­si­ven Ge­sprä­chen gut ein­schät­zen konn­te, wuss­te ich zu­min­dest ei­nes: sie lügt nie und wür­de die Ge­schich­te so dar­stel­len, wie sie sich wirk­lich zu­ge­tra­gen hat­te.

So war es dann auch. Aus ih­rem Zim­mer kam bald dar­auf der Mit­ar­bei­ter der Ju­gend­be­hör­de.       

Wir saßen im Büro zu­sam­men mit Achim und ich hör­te mir an, was er sag­te:

“Ich ha­be mit Jacky ge­spro­chen,“begann er, „... sie hat mir er­zählt, wie sie bei­de sich kennen gelernt ha­ben, und was Sie al­les für sie tun. Sie hat mir ge­sagt, das sie sich hier sehr wohl fühlt und dass Sie auf sie auf­pas­sen. Auch, dass sie nicht mehr an­schaf­fen müs­se für das Geld, was sie für ih­ren Stoff benötigt - so­ schlimm das alles auch ist! Ich kann nicht ge­ra­de sa­gen, das der Kiez das ge­eignet­e Zu­hau­se für ein minderjähriges Mädchen ist. Aber -...“ , der Typ vom Jugendamt machte eine bezeichnende Pause und holte Luft - und nun kam das, was mich zu­tiefst er­staun­te und was Achim die Zor­nes­rä­te ins Ge­sicht trieb, „..aber, an­ge­sichts der Um­stän­de und der Tat­sa­che dass, wür­den wir sie jetzt mit­neh­men und zu ih­rer Mut­ter oder wie­der ins Ju­gend­heim brin­gen, sie spä­te­stens mor­gen früh wieder auf der Ver­miss­ten­li­ste ste­hen wür­de, hal­te ich es für das Be­ste - ihr Ein­ver­ständ­nis..“ - mein Ein­ver­ständ­nis!- „...vor­aus­ge­setzt, wenn sie bis auf Weiteres hier bleibt. Hier wis­sen wir al­le wo sie ist und das es ihr - nach ih­rer ei­ge­nen An­ga­be - sehr gut geht.“

 

Mich traf der Schlag.

Das Ju­gend­amt ver­trau­te mir mehr als ih­rer ei­ge­nen Behörde, ja mehr noch, mehr als Jackys Mut­ter!          

Ich war über­glück­lich.          

Na­tür­lich durf­te sie hier bleiben, mei­ne klei­ne Hu­re, die mich je­den Tag den Mo­nats­be­zug ei­nes So­zi­al­hil­fe­emp­fän­gers ko­ste­te.            

Na­tür­lich durf­te ich sie hier bleiben!

Jacky war mitt­ler­wei­le auch ins Bü­ro ge­kom­men.     

Wir fie­len uns in die Ar­me, sie weinte, wusste selber nicht ob vor Schreck über den Polizeieinsatz oder vor Glück. Ich küsste ihre Haare.    

Jackys Mut­ter verließ wü­tend und ver­är­gert die Pen­sion.

 

Und mei­ne Jacky durf­te blei­ben.

 

 

Die Knarre

Es ist dun­kel, Nacht in Ham­burg. Süd­er­stras­se, Fern­fah­rer-Strich.      

Run­drum ver­las­se­nes Ter­ri­to­rium, Fa­bri­ken, Schrott­plät­ze, Ge­braucht­wa­gen­händ­ler - al­les zu um die­se Zeit. Es regnet ein biss­chen, das Kopf­stein­pfla­ster glänzt im Schein­werf­er­licht. Ich biege nach rechts ein, bei einer Tankstelle, die einzig belebte Insel in dieser dunklen, unheimlichen See. Ich war immer schon etwas ängstlich. Alleine würde ich mich hier nicht wohlfühlen.

Konju hatte sich auf dem Kiez umgehört. Für mich, den Geschäftsmann vom Kiez, der nur so zu seiner eigenen Sicherheit eben eine Knarre brauchte. Knarre ist cool. Damit bist du ein richtiger Mann. Die braucht man einfach. Auf dem Kiez.

Wir sitzen im Auto, es wird langsam kühl, seit der Motor aus ist. Wir sagen beide nicht viel, auch Konju ist die Spannung anzumerken. Ich schalte die Standheizung ein. Es piept unter der Motorhaube, man hört wie eine Art Föhn einschaltet, ein Brummen, dann wird’s warm. Fast geräuschlos. Mercedes. Angespannt schauen wir aus den Fenstern.

„Da…!?“ sage ich unsicher. Eine dunkle Gestalt löst sich aus einer Ecke neben der Tankstelle. Ich schalte den Scheibenwischer ein. Jetzt kann man sie besser erkennen. Eine Person kommt auf uns zu, den Jackenkragen hochgeschlagen, die Hände in den Taschen.

„Mach mall Lichthupe, Dick’rr!“sagt Konju. Mach ich. Die Gestalt hebt kurz die Hand und kommt auf uns zu. Wir fahren los, nur ein kleines Stück.

„Da rechts,“ sagt der Aus­län­der, der zu uns in den Wa­gen ge­stie­gen war, er saß vor­ne ne­ben mir, Kon­ju war nach hin­ten ge­klet­tert. „Fahr da rechts ran und Lam­pen aus!“ Ich tat, wie be­foh­len. Kon­ju von hin­ten: „So jetzz al­le Han­dy aus­ma­chen, Ak­ku rraus!“  Ich schal­te mein Han­dy ab. „Nää, Dick’rr, Ak­ku musst Du rraus­ma­chen, sonst kön­nen die Dich or­ten. Echt Dick’rr, ich red’kein Scheiss’, die kön­nen auch här­ren, wo Du bist, wenn Han­dy auss iss.“

Ich nehm den Ak­ku raus. Kon­ju schraubt noch zur Vor­sicht die An­ten­ne ab.

Der Typ ne­ben mir ne­stelt an sei­ner Jacken­ta­sche rum. Er holt ei­nen gro­ssen, fet­tig aus­se­hen­den brau­nen Um­schlag her­vor. Ölpapier. Ich will die Decken­be­leuch­tung an­ma­chen. „Biss Du verr­rückt, Dick’rr, mach nicht an!“ Kon­ju lacht.  „Ahrrr, Dick’rr, fin­den die uns so­forrt!“

Der Typ packt den Um­schlag aus. Es kommt ein specki­ger, öli­ger Lap­pen zum Vor­schein. Er wickelt die Knar­re aus. Das schwar­ze Me­tall glänzt matt im fah­len Licht, das von den Straßenlampen ins Wa­ge­nin­ne­re scheint.

Ein Au­to kommt lang­sam an­ge­fah­ren. Die bei­den schau­en be­sorgt, der Typ ne­ben mir lässt die Knar­re in Rich­tung Boden un­ter den Sitz ver­schwin­den. Der Wa­gen fährt vor­bei. Ein dicker Sechs­hun­der­ter, ein Ca­brio, schwarz, eher Zu­häl­ter als Bul­len.

Wie­der kommt die Knar­re zum Vor­schein. Der Aus­län­der gibt sie mir.

Au­to­ma­tik, die lädst Du­ mit sechs Schuss im Ma­ga­zin, ei­ne im Lauf. Ich neh­me das Ding, zie­he fach­kun­dig, aber doch vor­sich­tig erst ein­mal das Ma­ga­zin raus. Es ist voll. Ich hal­te die Knar­re nach un­ten, dre­he sie rum, so dass der Aus­wurf­schacht der Pa­tro­nen­hül­se zum Bo­den zeigt. Dann zie­he ich lang­sam mit der lin­ken Hand den Schlit­ten nach hin­ten, so­ dass die Hand un­ter dem Aus­wurf­schacht ist. Es fällt nichts her­aus. Der Lauf ist frei. Ich ent­si­che­re die Knar­re, ma­che ei­nen Ent­spann­schuss Rich­tung Wa­gen­bo­den. Klick. Funk­tio­niert. Das habe ich beim Bund gelernt. War doch zu was gut, der Wehrdienst. Ich rie­che am Lauf, am Aus­wurf­schacht. Nichts zu rie­chen. Ent­we­der gut ge­putzt oder echt noch nie ge­schos­sen.

“Der hat Ah­nung, derr Dicke, war bei Mi­li­tärr!“ sagt Kon­ju an­er­ken­nend von hin­ten zu dem Ty­pen, den er wohl gut kennt. Kon­ju kennt al­le. Al­le die wich­tig sind im Mi­lieu.

Der Typ ne­ben mir auf dem Bei­fah­rer­sitz schaut sich mei­ne Ze­re­mo­nie ge­lang­weilt an. Wenn ab und zu ein Au­to um die lang gezogene Kur­ve im In­du­strie­ge­biet biegt, schaut er kurz skep­tisch, prü­fend hoch. Kon­ju auch.

“Ok,“ sa­ge ich, „wie ab­ge­macht?“ Kon­ju hat den Preis schon vor­her aus­ge­han­delt. Si­cher auch mit ei­ner klei­nen Ge­winn­span­ne für ihn selbst.

“Ja, acht­zehn­hun­dert, hab ich schon mit Kon­ju klar­ge­macht. Is’n Freund­schafts­preis. Hier!“ Er reicht mir noch ein lee­res Ma­ga­zin rü­ber. „Für al­le Fäl­le...!“ Für wel­che Fälle- den­ke ich.

Wir fah­ren ge­mein­sam zu­rück, an der Shell-Tan­ke am­ Fern­fahr­er­hof steigt er aus. Kon­ju auch. Ich ha­be die Knar­re gut un­ter dem Sitz ver­staut. Kon­ju wech­selt noch ein paar Wor­te mit dem Ty­pen, dann steigt er wie­der ein.

“Na, Dick’rr,“ er grinst, „ha­ben wir doch gu­tes De­al ge­macht, ne? Nor­mal kriegst Du nurr teu­rer! Was ist das für Ding, Dick’rr?“

“Sie­ben­fün­fund­sech­zi­ger Colt Au­to­ma­tik, aber schon ein paar Jähr­chen alt. So Bau­jahr ‘75 schät­ze ich.“

“Ja­aah - aber macht nixx, Dick’rr, Haupt­sa­che schiesst, näh!“

 

Was ich ei­gent­lich da­mit woll­te, weiß ich heu­te ehr­lich ge­sagt auch nicht mehr so ge­nau. Ich fühl­te mich halt si­che­rer, wenn ich sie hat­te. Ein Mann braucht eben ei­ne Knar­re. Ob­wohl ich ei­gent­lich mei­stens sehr we­nig Mann bin.

Gut, ab und zu hat­te ich so an die zehn Mil­le lo­se in der Ta­sche, aber des­halb gleich schießen, wenn sie ei­ner ha­ben will?

Je­den­falls hat­te ich jetzt ei­ne Knar­re. Spä­ter kam noch ei­ne hin­zu, ein zwei­und­zwan­zi­ger Trom­mel­re­vol­ver, den hat­te Kon­ju ir­gend­wo ein­ge­tauscht und konn­te da­mit nichts an­fan­gen. „Ka­li­ber ist zu klein, Dick’rr, kann­ste nur Spat­zen mit schießen!“  Er hat sie mir für Acht­hun­dert über­las­sen, ich sol­le sie für ihn an den Mann brin­gen. Aber das Geld hat er gleich von mir kas­siert. Bes­ser ge­sagt, er hat es auf­ge­schrie­ben. Denn zur Zeit des Zwei­und­zwan­zi­gers war ich schon plei­te. Kon­ju hat sich da­für für ei­ne zeit­lang den Colt Automatic ge­borgt. Er hat­te ihn seit dem stän­dig bei sich, seit er beim Ko­kain­han­del ein paar un­an­ge­neh­men Ge­stal­ten aus Ver­se­hen auf die Füße ge­tre­ten war.

Mein Colt in sei­ner Woh­nung, das war bei Kon­jus Ver­haf­tung mit ein Grund, wa­rum er - auch jetzt noch - sitzt. Sein Bru­der woll­te mich über­re­den, bit­ten, drän­gen, al­les, was mög­lich war, da­mit ich bei der Schmie­re aus­sa­ge, das es mei­ne Knar­re ist.  Ich ha­be mich gut ge­hü­tet, dies zu tun.

Soll ich an Kon­jus Stel­le in den Knast? Aber das war erst spä­ter.

Ich zwei­fle manch­mal sehr dar­an, dass ich für je­man­den ein gu­ter Freund bin.

 

 

 

 

Nicki’s Disco - Der Rote Teppich

Ir­gend­wann hat sich Kon­ju ein Au­to ge­kauft. Nicht, dass er so gut hät­te fah­ren kön­nen. Oder gar ei­nen Füh­rer­schein hat­te. Er woll­te ein­fach ein Au­to ha­ben. Jetzt gleich. Und da er von ir­gend­ei­nem Ty­pen - wie von vie­len - ei­nen nicht un­an­sehn­li­chen Geld­be­trag be­kam, Koks­schul­den, hat er gewissermaßen des­sen Au­to ein­fach be­schlag­nahmt. Für den Ge­gen­wert von Zwoe­in­halb be­kam er ei­nen wirk­lich schö­nen Peu­ge­ot Kom­bi, grau­me­tal­lic, mit Leicht­me­tall­fel­gen. Der ver­brauch­te zwar ein biss­chen viel Öl und auch nicht all­zu­we­nig Sprit, aber was soll’s - er hat­te es ja.

Und so stand das Ding ei­nes Ta­ges vor der Tür der Woh­nung sei­nes Bru­ders.

„Eehhh, Dick’rr, na wie gehtt Dir? Guck mal, ha­be ich Au­to jetzz!“ Er nahm den Schlüs­sel, rann­te zur Woh­nungs­tür raus, Trep­pe run­ter. Ich hin­ter­her. Er zeig­te mir sei­ne Beu­te.

„Und Dick‚rr? Iss schä­nes Au­to oder? Mus­stess Du mal pro­be­fah­ren, ob al­les gut ist. Viel­leicht wir brau­chen Öl, oder weiss ich was!“         

„Dicker, Du hast doch gar kei­ne Lap­pen?“ fra­ge ich nach dem Füh­rer­schein.  

„Paahhh, egal, Alt’rr, kann ich Au­to­fah­ren be­stimmt. Seiggst Du mir biss­chen. Fah­ren wir Abend, wenn nicht viel Ver­kehr iss auf Stras­se. Werdd ich schon be­grrei­fen!“

Hat er auch be­grif­fen, so­gar recht schnell. Ir­gend­wie hat­te ich doch im­mer noch ein un­gu­tes Ge­fühl, wenn er mich auch nach Wo­chen im Be­sitz des Au­tos, mit dem so­gar ich ger­ne fuhr und das mei­stens auch tat, weil er wohl doch ein biss­chen Schiss hat­te, an­ge­hal­ten zu wer­den oh­ne Füh­rer­schein, frag­te: „Ab’rr Dick’rr, sag mal, was be­deu­tet ei­gent­lich die­ses Ver­kehrs­schild. Ich ha­be oft ge­se­hen schon, ja, ken­ne ich al­les gut. Ab’rr sag mal, was be­deu­tet?“ Ich gab ihm al­so noch ein paar Fahr­stun­den, er­klär­te ihm im­mer, wenn wir ir­gend­wo mit dem Au­to un­ter­wegs wa­ren, wor­auf er ach­ten müs­se und er­klär­te ihm die Schil­der. Spä­ter fuhr er im­mer sel­ber. Die wei­te Strecke zu Nicki, mit der er­ jetzt zu­sam­men war, Rich­tung Ro­stock. Er ist gut ge­fah­ren, hat nie ei­nen Un­fall ge­baut, egal wie breit er war. Mit Koks kann man gut Auto fahren. Weil man ru­hig ist und kon­zen­triert.

Kenn­zei­chen hat­te das Ve­hi­kel nun auch: ich hat­te noch ein paar al­te, nie­der­län­di­sche Kenn­zei­chen von ei­nem frü­he­ren Wa­gen. Ich hat­te ja schon mal in Hol­land ge­wohnt. Und für die da­zu pas­sen­den Pa­pie­re war der Farb­drucker zu­stän­dig. Wenn Kon­ju eh schon kei­nen Füh­rer­schein hat­te...

Wir fuh­ren oft da in die Ge­gend zu Nicki, min­de­stens je­des Wo­che­nen­de. Ich lieb­te die Neu­en Bun­des­län­der. Hier bi­ste noch wer!

Nicki kann­te ei­ne Di­sco­thek. Die woll­te sie uns gern zei­gen. Wir al­so hin zu Nicki, Kon­ju und ich, mit mei­nem Nut­ten-Fer­ra­ri.        

„Dick’rr, lass mal mit Mer­ser fah­ren, sieht bes­ser aus! Mit Ham­bur­ger Kenn­zei­chen, al­le den­ken, wir sind Zu­häl­ter!“ er lach­te. „War­te mal ab, wirdd gro­sses Show!“  In Nickis Wohn­ort ha­ben wir dann sie und ih­re Freun­din An­ja ein­ge­la­den, mit der spä­ter Kon­jus Bru­der zu­sam­men­kam. Ein net­tes Mäd­chen, auch sehr hübsch, zwar mit für mei­nen Ge­schmack et­was zu viel Ober­wei­te ausgestattet. Aber ich muss­te ja nichts von ihr wol­len. Ich moch­te An­ja mit der Zeit rich­tig ger­ne, mehr schon als Nicki, die zu­neh­mend ko­mi­scher wur­de.

Dann ging es los. Von Nickis Wohn­ort bis zu der Dorf-Dis­se wa­ren wir fast ei­ne Stun­de lang un­ter­wegs. Nicht, das der Weg so lan­ge ge­we­sen wä­re. Aber ei­ne sogenannte Chaus­see, und da­von gibt es vie­le im Osten, ist für ei­nen tie­fer­ge­leg­te Mer­ce­des nicht das sel­be wie für ei­nen an­spruchs­lo­sen Trab­bi. Gebirgsähnliche Höhenunterschiede in der Stras­se von zehn Zen­ti­me­tern, von jetzt auf gleich, sind nicht so ein­fach zu­ mei­stern, im Dun­keln, wenn Du ganz lang­sam fah­ren musst, da­mit das Fahr­werk nicht auf­setzt.

„Da hin­ten is­ses,“ sag­te Nicki von der Rück­bank aus, „Da, wo al­les be­leuch­tet ist.“ Al­les be­leuch­tet! Ein paar fahl-gelb­lich leuch­ten­de Licht­ma­sten stan­den auf dem Park­platz, eben nach Ost-Ma­nier, mach­ten ge­ra­de so­viel Licht, das Du se­hen konn­test, das hier der Tanz­tem­pel war, und kei­ne Kol­cho­se. Denn äußerlich un­ter­schied sich die Disco we­nig von ei­ner LPG (Land­wirt­schaft­li­che Pro­duk­tions­ge­nos­sen­schaft), die er frü­her auch mal war, neh­me ich an. Vie­le ehe­ma­li­ge Bau­ern funk­tio­nier­ten ih­re al­ten Hö­fe nach der Wen­de zu Di­sco­the­ken um. So gab es dann auch je­de Men­ge hier in der Ge­gend, al­le zehn Ki­lo­me­ter ei­ne, und al­le ge­nau­so schlecht er­reich­bar wie die­se. Run­drum stan­den ein paar Ost-Häu­ser, es war Win­ter oder Früh­jahr, je­den­falls schnei­te es ein we­nig und war kalt. Ge­ruch von Haus­brand, von koh­le­be­feu­er­ten Öfen und Trab­bi-Sprit hin­gen in der neb­li­gen Luft. Wir bo­gen auf den Park­platz der Dis­se ein. Fest­ge­stampf­ter Lehm­bo­den, mit Schlaglöchern und Pfüt­zen dar­in. Der Park­platz war voll, wie ich sah, als ich schon draufstand mit dem Wa­gen. Auch rings­her­um, auf den Stras­sen und Geh­we­gen um die Dis­se stan­den Au­tos. Trab­bis, Wart­burgs und da­zwi­schen ei­ni­ge kit­schig auf­ge­mach­te Golf GTI’s, in hell-li­la oder krei­schend-gelb. Osten pur. Scha­de ei­gent­lich, dass die Manta’s aus der Mo­de ge­kom­men sind, dach­te ich, die wür­den auch noch hier­her pas­sen. Und da stand tat­säch­lich ei­ner! Aber oh­ne Fuchs­schwanz an der An­ten­ne. Kli­schee-Bil­der.          

So stan­den wir nun auf dem Park­platz der Dis­se, al­le im­ Wa­gen schau­ten sich su­chend nach ei­ner Park­lücke um. Wir stan­den auf der Zu­fahrt, mit­ten drauf, der ei­gent­li­che Park­platz ging nach links ab. Wir stan­den prak­tisch vor dem Ein­gang. Schil­der „Hier nicht par­ken“ und gelb-ro­te Pla­sti­khüt­chen zeig­ten mir, dass ich hier wohl nicht ste­hen blei­ben konn­te. Ordentlich, wie ich es gelernt hatte, legte ich den Rückwärtsgang ein, um mir woanders enen Parkplatz zu suchen.

Von der Tür kam ei­ner der Tür­ste­her an­ge­lau­fen, da­hin­ter ein zwei­ter. Wir im Mer­ser-Cou­pe mit Ham­bur­ger Num­mer. Ich ma­che das Fen­ster auf. Lang­sam fährt die Schei­be elek­trisch run­ter, fast ma­je­stä­tisch. Mer­ce­des. Ich set­ze den ern­sten, coo­len Blick auf, will gra­de schon sa­gen: „Ja, ja, ich fahr schon weg!“ als der Tür­ste­her ruft: „Ne, ne, ist gut, stel­len Sie mal ru­hig dort hin, der Kol­le­ge holt eben Hüt­chen!“ (das sind die gelb-ro­ten Pla­stik­din­ger). Ich bin et­was ver­wun­dert, stel­le aber den­noch die Ki­ste mit­ten vor den Ein­gang, wie be­foh­len. Kol­le­ge kam, mit zwei Bau­stel­len-Blin­klämp­chen, die schon wäh­rend er an­ge­lau­fen kam, ei­frig gelb blink­ten. Geht - geht nicht, geht - geht nicht! Kol­le­ge stell­te ei­nes vor und ei­nes hin­ter den Mer­ser, als wir aus­stie­gen.

Das war ja fast ein ro­ter Tep­pich.

Kon­ju grin­ste. „Sieh­ste, Dick’rr, habb ich nich ge­sagt? Wirr ma­chen Ein­drruck!“ Er­ be­ton­te „Ein­druck“.

Wir vier gin­gen die paar Stu­fen zum Ein­gang rauf. Tee­nies stan­den vor der Kas­se, Jungs und Mäd­chen, ei­ne lan­ge Schlan­ge. Der Tür­ste­her vom Park­platz lief auf­ge­regt vor uns her, schob die Leu­te zur Sei­te. „Weg da, lasst uns durch! Zur Seite!“ Und zu uns: „Kommt mal hinter mir her.“ Er schleu­ste uns an der Kas­se vor­bei, hob die Hand zur Kassiererin: „Alles ok!“

Alles ok! Nichts be­zah­len! Kei­ne fünf Mark Ein­tritt, wie auf ei­nem Schild neben der Kasse stand. Pro Per­son. Staats­emp­fang. Zu­häl­ter-Ef­fekt. Wie Kon­ju pro­phe­zeit hat­te.

Zwei coo­le Ty­pen mit zwei hei­ssen Schnit­ten. Ham­bur­ger Num­mer am Au­to. Da frag­te nie­mand. Bloß kei­ne dum­men Fra­gen, kei­nen Är­ger pro­vo­zie­ren. Das sind Ham­bur­ger. Ich ge­be zu, das ich einigermaßen über­rascht war. Und irgendwie stolz! Das hat­te ich nicht er­war­tet!

Drin­nen in der Dis­se: Ost-Ro­man­tik. Viel Holz an den Wän­den, ro­bu­ste Bän­ke und Ti­sche, we­nig Schick. Aber ei­ne gu­te Licht­an­la­ge an der Decke, und als wir rein­gin­gen, lief ge­ra­de Hou­se. Lei­der blieb das nicht so, denn als die Girls ge­ra­de tan­zen ge­hen woll­ten, lief Hip Hop, Pop-Kram und ähn­li­ches.

Wir wa­ren un­zu­frie­den. Nun kom­men wir ex­tra we­gen die­ser Bau­ern-Dis­se den wei­ten Weg hier­her und dann so was. Ich al­so hin, zum DJ. „Wann gibts denn hier wie­der mal Hou­se?“ frag­te ich.          

„Ja, ich ma­che das im­mer so ab­wech­selnd, für je­den Ge­schmack was. So in einer hal­ben Stun­de oder so, schät­ze ich!“  Ich zie­he ei­nen Hal­ben (Fuff­zig Mark) aus der Ta­sche. Geld ha­be ich im­mer lo­se in der An­zug-Ta­sche, - und zu der Zeit hat­te ich noch Geld -,  schie­be ihn über das DJ Pult. „Schau mal, ob das nicht frü­her geht, ja!“ sa­ge ich, freund­lich, aber mit fest­em Blick, zwinker’ ihm sou­ve­rän zu und ge­he wie­der zu den an­de­ren.

Die Plat­te, die ge­ra­de lief, brach fast jäh ab.    

Den gan­zen Abend, bis wir fuh­ren, lief nur noch Hou­se.          

Und wir fuh­ren spät. Bes­ser ge­sagt - früh.

Osten. Zu­häl­ter - Ef­fekt.

 

Ir­gend­wann hat sich Kon­ju re­so­zi­a­li­siert. Nein, er hat na­tür­lich nicht das Kok­sen auf­ge­ge­ben und sich ei­nen nor­ma­len Job in der Freien Wirt­schaft ge­sucht. Ich mei­ne, er hat sich ei­ne ei­ge­ne Woh­nung be­sorgt. Ich weiß nicht, wa­rum er so lan­ge bei sei­nem Bru­der ge­wohnt hat, in dem klei­nen Zim­mer ge­schla­fen hat. Kon­ju hat im­mer Geld ge­habt.

Die Ge­schäf­te mit dem Weißen Glück lie­fen im Durch­schnitt ge­se­hen pri­ma.

Er hat­te im­mer ein dickes Knödel Koh­le in der Ta­sche. Ei­nen „Hü­gel“, wie man in Ham­burg sagt. Er hat­te ir­gend­wann ei­ne neue Freun­din ge­fun­den, nichts Tol­les, ich moch­te sie nie. Aber er woll­te, das je­mand zu­hau­se war, auf ihn war­te­te, Es­sen koch­te. Fa­mi­lie, eben. Als Er­satz­kind hat er sich Bo­xi ge­kauft, ei­nen ganz jun­gen Hund, ei­ne Mi­schung aus Bo­xer und Ma­sti­no oder so was ähn­li­ches. Er hat ihm nach Kiez-Ma­nier gleich die Oh­ren und den Schwanz kupieren las­sen. Jetzt war der klei­ne Bo­xi ein ech­ter Kampf­hund. Zu­häl­ter - Ef­fekt.

Die Woh­nung, in der er nun zu­sam­men mit sei­ner Freun­din - die er doch stän­dig mit ei­ner der vie­len Hu­ren, die er kann­te, be­trog - wohn­te, war recht schön und riesengroß, wenn auch nichts drinstand.

Ei­nes mor­gens dann ha­ben sie Kon­ju ab­ge­holt .

Es war wohl so ge­gen sie­ben Uhr früh. Man hat er­zählt, sie wä­ren mit meh­re­ren Mann ge­kom­men, hät­ten die gan­ze Bu­de auf den Kopf ge­stellt und ihn mit­ge­nom­men. We­gen sei­ner frü­he­ren Au­to-Auf­brü­che lief wohl noch ein Haft­be­fehl. Wei­ter hieß es, die Schmie­re hät­te ei­nen Tip be­kom­men. Denn er wohn­te ja erst kurz da. Die Freun­din wä­re ein Po­li­zei-Spit­zel ge­we­sen, sag­ten sie. Kann ich mir nicht vor­stel­len. Da­zu war die viel zu doof. Aber bes­ser is­ses viel­leicht so. Ich ha­be, so­fort nach­dem ich von sei­ner Ver­haf­tung er­fuhr, ein schlech­tes Ge­wis­sen ge­habt. Oh­ne Grund. Ich ha­be mir vor­ge­stellt, sie könn­ten den An­pfiff mir in die Schu­he schie­ben. Grün­de ge­nug hat­te ich. Wenn hun­dert Mill Schul­den we­gen Koks kein Grund sind...

Aber nie­mals hat je­mand so et­was be­haup­tet. Und ich war’s, nicht, ehr­lich nicht, Dick’rr.

Sein Bru­der und des­sen fet­ter, bru­ta­ler Cou­sin ka­men da­nach stän­dig ins „Girlie’s“ ge­lau­fen, wo ich spä­ter, als ich plei­te war, wie­der ar­bei­te­te, woll­ten die Koh­le. Für ei­nen Rechts­an­walt, für Kau­tio­nen. Dreißig Gramm hat­ten sie wohl bei Kon­ju ge­fun­den, schön säu­ber­lich mit der elek­tro­ni­schen Waa­ge für drei­hun­dert Mark ab­ge­wo­gen und in die Tür­ken-Pla­stik­beu­tel­chen eingeschweißt.

Und ei­ne Knar­re.

Colt-Au­to­ma­tik, sie­ben-fün­fund­sechs­zi­ger.

 

Mei­ne.

 

 

 

Der König wird entthront.

Die er­sten To­des­sehn­süch­te über­ka­men mich.

Ich hat­te im­mer zu­ mir sel­ber ge­sagt: „...Wenn die Koh­le weg ist, machst Du­ Schluss!“. In die­ser Stim­mung war ich zu­ der Zeit. Schluss ma­chen mit al­lem.

Die Miet­schul­den, die Strom-, Was­ser- und Gas­rech­nun­gen wa­ren so­ hoch, selbst ein gu­ter Ver­kauf der Pen­sion hätten es kaum mehr ge­bracht. Und den­noch. Ich trug mich mit dem Ge­dan­ken, die Pen­sion, die ich vor ei­nem knap­pen drei­vier­tel Jahr für Fuff­zig­tau­send ge­kauft hat­te und min­de­stens noch mal für zwan­zig Mill auf­ge­wer­tet hat­te, zu ver­kau­fen. Aber es muss­te schnell ge­hen. Es fand sich bald ein In­ter­es­sent, der sprang aber wie­der ab.

So ba­nal es auch war, ich hätte die­ Investition in die Pension König noch irgendwie zurückverdienen können, und sei es nur zum Teil - aber ich hat­te nicht ein­mal mehr das Geld, die An­non­cen für den Ver­kauf zu be­zah­len. Ich hat­te auch die Kraft nicht mehr.

Tief drin im Koks­sumpf hast Du kei­nen Bock mehr auf Geschäfte, auf fein­füh­li­ge Ver­hand­lun­gen.

 

Ich hat­te nicht mal mehr Bock, aus dem Haus zu ge­hen.     

Ich lag auf dem Bett in Zim­mer Fünf, in dem ich mich häus­lich nie­der­ge­las­sen hat­te. Al­len an­de­ren Mie­tern, die zu der Zeit so­wie­so unregelmäßig bis gar nicht mehr zahl­ten, ha­tte ich ge­kün­digt. Seit Achim nicht mehr im Haus war, wur­den Zim­mer auf­ge­bro­chen von Leu­ten, die hier mal wohn­ten und noch Schlüs­sel hat­ten, Fern­se­her ge­klaut und ver­scher­belt. Ich schlief mit der ge­la­de­nen Knar­re un­ter dem Kopf­kis­sen.

Ein letztes Aufbäumen! Noch einmal das eingerostete Steuer rumreissen. Den Kompass, dessen Nadel unabweichlich auf ‚Absturz’ stand, noch einmal beeinflussen.

In Zimmer neun hate ein Junkie gewohnt, zusammen mit seiner Frau oder Freundin oder was immer die auch war. Frau oder Freundin war schon lange weg. Und der Junkie hatte sich wohl einen Schlüssel von der Pension nachgemacht. Ich hätte auch einfach as Turschloss auswechseln können. Aber das neune Schloss hätte ich bezahlen müssen. Wovon? Ich hätte es auch, um Geld zu sparen, selber einbauen müssen. Wie? Ich war völlig fertig, ständig mega-breit, Bewegungen waren nur möglich, wenn es dabei um Drogen-Beschaffung ging, und auch dann nur, wenn sie wirklich nicht zu vermeiden waren.

Aber beklauen lassen wollte ich mich dann doch nicht! Ein letzter Anflug von Ehrgefühl. Ich beschloss, mich auf die Lauer zu legen. Legen – liegen. Das war das einzige, was gerade noch so ging. Ich habe ja auch gar nichts mehr gegessen, in dieser Zeit. Nur noch gezogen. Ich war vollkommen abgemagert. Gehen und besonders Laufen, oder andere körperliche Anstrengungen waren schwierig bis unmöglich.

Es war dunkel geworden. Im Dunkeln würde er wohl kommen, der Junkie. Verachtenswert, ein Junkie! Ich war keiner. Nur gerade mal nicht so gut drauf. Seit Wochen - Monaten.

Ich löschte alle Lichter in der Pension König. Verschloss die Tür von Zimmer Zwei, von innen. Setzte oder legte mich aufs Bett. Nahm die Knarre, lud sie durch. Den Sicherungshebel nach unten. Wenn der nach unten zeigt, ist das Ding gesichert. Wenn du es um 45 Grad drehst, im Uhrzeigersinn, nach vorne, dann rastet er mit einem leichten Klicken ein, in der Stellung „Schussbereit“.

Noch war die Knarre gesichert.

Lange Zeit passierte nichts. Ich sass oder lag auf dem Bett, abwechselnd. Die Knarre neben mir auf dem Kopfkissen. Ziehen, liegen, ziehen, sitzen.

Wie damals schon mit dem fremden Mann und Adana in der Danziger wusste ich nicht mehr so recht, ob und was ich höre. Sinne spielen verrückt. Ohren horchen, aber gehorchen nicht mehr.

Ein Knacken! Metallisch dreht sich ein Schlüssel im Türschloss, an der Eingangstür der Pension! Die Tür quietschte immer leicht, wenn sie aufging. Auch jetzt qietschte sie leicht. Also ging sie auf! Hoch aus der Waagerechten! Tasten nach der Knarre. Atem anhalten. Schritte! Schrappende und kratzende Geräusche, irgendwo aus der Richtung von Zimmer acht oder neun. Ein gedämpftes Krachen, es hörte sich an, als wenn eine Tür aufflog und gegen irgend etwas stiess.

Ich stand hinter der Zimmertür von Zimmer Zwei, drehte langsam den Schlüssel im Schloss nach rechts, drückte die Klinke nieder, zog die Tur langsam und vorsichtig zu mir hin. Jetzt keine Geräusche machen. Bloss nicht!

Klick! Machte der kleine Hebel leise, als er, geführt durch die Kuppe meines Daumens, in die Stellung „Schussbereit“ flutschte. Mein Herz schlug bis zum Halse. Herzschlag 200! Atemnot. Ich huschte den Gang nach links entlang, vorbei an leeren Zimmern, die niemand mehr bewohnte. Jetzt kein Gedanke mehr an Koks! Anspannung. Aufmerksamkeit. Keine Geräusche machen jetzt! Links in der Ecke war das ehemalige Zimmer von Jacky, dort machte der Gang einen Knick nach rechts, hin zu den Zimmern acht und neun, vorbei an den Duschen. Wieder Gräusche, jetzt deutlich vernehmbar, aus Zimmer neun kommend. Ruckartig schoss mein Kopf hervor, kurz um die Ecke zu dem betreffenden Zmmer schauend, innerhalb einer Sekunde alles wahrnehmen wollend, dann wieder zurück. Mein Mund war offen, ich atmete schwer, aber mit offenem Mund machts keine Geräusche. Hoffte ich zumindest. Wieder vorsichtig um die Ecke. Da!, jetzt, ein Schatten, ein Huschen auf dem Gang. „Bleib stehen, auf den Boden!“ keuchte ich, ausser Atem. BANG... NNNG... NNNNG! machte es. Der Schuss hallte in meinen Ohren wieder. Mir war schwindelig. Ob alle Bang’s zum Schuss gehörten oder eines der Bang’s zum Zuschlagen der Tür der Pension – ich weiss es nicht. Ich weiss nicht einmal, ob sich die Tür jemals wirklich geöffnet hatte. Bis heute weiss ich es nicht sicher. Ich weiss nur, dass die Kugel im Türblatt von Nummer neun steckte. Auf der Höhe von 175 Zentimetern. Kopfhöhe. Ich hab’s nachgemessen. Stell dir mal vor, da ist nun wirklich jemand rausgelaufen – ich weiss es nicht. Ich weiss nicht einmal, ob sich die Tür jemals wirklich geöffnet hatte.

Der Fernseher war weg. Aber das war er auch vorher schon. Ob sonst was fehlte, weiss ich nicht. Ich hätte vielleicht vorher mal nachsehen sollen.

Alles war weg.

 

Ich konn­te nichts mehr da­ge­gen tun.

Ich woll­te es auch nicht mehr.

Ich hat­te doch ein­fach kei­ne Kraft mehr!

 

Ich woll­te nur noch Dro­gen, Koks, zie­hen bis zum Um­fal­len, ge­ra­de noch aus dem Haus ge­hen, um neue Dro­gen zu be­sor­gen, dann schnell wie­der heim, Vor­hän­ge zu und wei­ter­zie­hen, wei­ter­rau­chen.

 

Ein trau­ri­ger Le­bens­in­halt, nicht wahr?         Der ein­zi­ge Sinn, den ich noch im Le­ben sah. Nur mit Koks konn­te ich noch so viel Adre­na­lin und Kraft auf­brin­gen, um mich am Le­ben zu er­hal­ten, konn­te so­gar, trotz der trü­ben Stim­mung, die nur noch vor­herrsch­te bei mir, ab und zu so vie­le End­or­phi­ne ver­sam­meln und auf ein­mal als Stoss aus­schüt­ten, das ich mal la­chen konn­te und mich amü­sier­te.

Für ei­nen kur­zen Au­gen­blick. Die Au­gen­blicke wur­den im­mer kür­zer. Bis sie end­lich ganz ver­sieg­ten.

 

Ich re­a­li­sier­te lang­sam, ein Jun­kie ge­wor­den zu sein.

Ein Jun­kie. Ich. Der Sohn aus gu­tem, mit­tel­stän­di­schen Hau­se.       

Ganz un­ten.

Oh­ne Hoff­nung, aus ei­ge­ner Kraft wie­der auch nur bis in die Nä­he der Ober­flä­che zu kom­men.

Al­le so genannten Freun­de und Be­kann­ten zo­gen sich im­mer wei­ter von mir zu­rück. Koks-Be­kannt­schaf­ten. Was will man er­war­ten. Ich hat­te kein Geld mehr, konn­te kei­ne Li­nes mehr aus­ge­ben oder gar gan­ze Gräm­mer ver­schen­ken, Koks-Par­ties ma­chen, zu der im­mer al­le ger­ne, oft und lan­ge ka­men. Kei­ne Cham­pagner-Bäder mehr im Pool in der Dan­zi­ger - dem Pa­ra­dies, das es nicht nur für mich son­dern wohl auch für al­le wa­ren war, die mich dort be­such­ten und das Le­ben in vol­len „Zü­gen“ ge­nos­sen. Es war nichts mehr zu genießen. Nicht ein­mal mehr für mich.

 

Achim war zwi­schen­zeit­lich mit all sei­nen Sa­chen aus­ge­zo­gen aus der Pen­sion Kö­nig. Der Ver­mie­ter hat­te sei­nen Be­such an­ge­kün­digt, den woll­te er­ nicht se­hen, ganz klar, und auch ich woll­te ihm auf kei­nen Fall Re­de und Ant­wort ste­hen müs­sen. Viel zu­ un­si­cher war ich ge­wor­den, men­schen­scheu. Ich woll­te mein Koks, und dann in Ru­he ge­las­sen wer­den. Nie­man­den mehr se­hen.

Als der Tag näher rückte, zu dem der Vermieter sein Erscheinen angekündigt hatte.

Vorher, in noch halbwegs klarem Zustand, konnte ich immer wieder Vertröstungen erfinden, um ihn hin zu halten. Die Steuer war zu bezahlen, ich hatte einem Freund aus einer finanziellen Notlage helfen müssen, ich zahle, kein Problem, in drei Tagen, nächste Woche, spätestens in zehn Tagen. Nun war seine Geduld –zurecht, wie ich im Nachhinein einräumen muss- zuende.  Ich beschloss, abzuhauen. Ich konnte nicht länger in der Pension bleiben. Dauerbreit, zu keiner Form von Verhandlungen mit „Normalos“ fähig, musste ich ihm einfach aus dem Weg gehen.

Aber wohin? In die Danziger konnte ich nicht, die hatte ich, um irgendwie Geld zusammenzukriegen, untervermietet. Inklusiv all meiner persönlichen Habseligkeiten, meinen Möbel, Büchern, Unterwäsche. An ein paar Luden, die dort ihre Mädels ackern ließen.

Ich packte meine Pirate-Style Reisetasche, schmiss hinein, was ich in den Zimmern zwei und Fünf noch fand und schwankte zu meinem Merser. Es war schon kühl draußen, es war Herbst. Ich fuhr ziellos durch die Gegend, nahm an jeder Ampel einen Zug Koks aus dem kleinen braunen Ex-Poppers-Fläschchen. Lose einen kleinen Haufen auf den linken Handrücken geschüttet, keine Lines mehr, das dauert mir einfach zu lange, mit dem Daumen der rechten Hand das rechte Nasenloch zugedrückt und durchs linke eingezogen. Die Leute im Auto neben mir an der Ampel gucken komisch. Ein Ehepaar, mittleres Alter. Lass sie doch gucken.

Was wohl die Nachbarn sagen würden. Der missratene Sohn…

 

 

 

Höllenfahrt

„Mir reicht’s, ich hau ab“ brüll­te ich durch die ver­schlos­se­ne Tür, „...ich lass mich von euch nicht verarschen!’, rann­te den Gang hin­un­ter wie­der zu­rück, pack­te den Au­to­schlüs­sel und die schwar­ze Le­der-Sport­ta­sche Mar­ke Pi­ra­te, tau­send Mark, in­ die ich ir­gend­wann vor­her die Knar­re ge­schmis­sen hat­te, und knall­te die Woh­nungs­tür von außen zu. Trep­pe run­ter, rein ins Au­to. Mo­tor an. Es rausch­te. Wenn ein Fünf­hun­dert­sech­zi­ger Mo­tor ge­star­tet und hoch­ge­trie­ben wird, dann heult er nicht auf - er rauscht nur et­was win­di­ger als nor­ma­ler­wei­se. Mer­ce­des.       

Ich ge­be Gas, fah­re los. Ach ja, Licht an, mer­ke ich so nach zehn Mi­nu­ten mit­ten in der Nacht dann auch. Ich bie­ge von der Dan­zi­ger Strasse in die Lan­ge Rei­he ein. Das Au­to­te­le­fon summt. Es bim­melt nicht, es summt de­zent. Mer­ce­des. Erst, als die Radiostumm­schal­tung des Telefons nach dem drit­ten Sum­men die Mu­sik killt und die Au­to­ma­tik das Gespräch zu­schal­tet, mer­ke ich, das das Ra­dio über­haupt an war. Vol­le Dröhnung! Es ist Ines. Ich neh­me den Hörer kurz ab, knal­le ihn wie­der auf die Hal­te­rung. Er fällt run­ter, ich höre hel­les Stim­men­gez­wit­scher aus den Qua­dro-Sur­round-Laut­spre­chern. Schei­sse. Ich bücke mich schnell Rich­tung Bei­fah­rer-Fuss­mat­te, um den ver­damm­ten Hörer zu grei­fen. Als ich ihn end­lich ha­be, ihn wie­der auf die Hal­te­rung ge­drückt ha­be und wie­der da­zu kom­me, zum vor­de­ren Fen­ster hin­aus­zu­se­hen, steht vor mir ei­ne Schrank­wand mit rechts und links ro­ten Leuch­ten dar­an, die in die­sem Mo­ment gleißend hell wer­den. Der rech­te Fuß sucht das Brems­pe­dal! Irgendwo da unten muss es doch sein!

Die Schrank­wand wird ganz schnell im­mer größer. Wer­bung ist dar­auf. Hek­ti­scher Blick auf die In­stru­men­te. Endlich! Das Bremspedal gefunden. Die Ta­cho­na­del rast von ir­gend­wo oben im Af­fen-Speed nach un­ten, pas­siert ge­ra­de die Zahl Fünf­zig, ste­tig fal­lend, fällt aber wohl aus größerer Höhe. Das gel­be Warn­dreieck vom ABS im Ta­cho leuch­tet grell auf. Ich zie­he den Len­ker ruckartig nach links. Während die Schrank­wand nach rechts ver­schwin­det, greift das ABS-Sy­stem, das Brems­pe­dal ruckelt da­bei so­ ge­wal­tig wie der Wa­gen bremst. Oh­ne quiet­schen­de Rei­fen na­tür­lich. Mer­ce­des. Ich ste­he. Ne­ben mir rechts der Bus, dem ich ge­ra­de noch ha­be aus­wei­chen können. Der Fah­rer in der be­leuch­te­ten Ka­bi­ne schüt­telt den Kopf, zeigt ei­nen Vo­gel. Ich ste­he quer auf der Ge­gen­fahr­bahn der Strasse Lan­ge Rei­he, unfähig, mich zu rüh­ren. Hätte ja auch Ge­gen­ver­kehr kom­men können, dach­te ich kurz. Das hätte das ABS-Sy­stem dann aber auch nicht ge­wusst.

 

Die Knie zit­tern. Mu­skel­ver­kramp­fung, die sich lang­sam löst. Das Te­le­fon summt schon wie­der.

Ich reiße den Hörer aus der Hal­te­rung: „ Leckt mich am­ A..., ver­dammt, ich lie­be Na­di­ne, wann ka­piert sie das denn end­lich. Nur sie will ich. Nichts und nie­mand an­de­res auf der Welt. Das weißt Du­ doch,“ schreie ich Ines an­, „...wa­rum willst Du­ sie mir denn ausspannen? Ich hab die Schnau­ze voll! Ich bring mich um. Ich fah­re jetzt gleich zur El­be, da wo die Straßenbaustelle ist...!“           

Ich ste­he im­mer noch auf der Stras­se. 

Um die Ecke kom­men zwei Schein­wer­fer. Wie groß das Ding ist, an dem sie dranhängen, kann ich nicht er­ken­nen. Der Blick ist ver­schwom­men, die Pu­pil­len weit. Ich le­ge den Rückwärtsgang ein. Bloß weg hier, Jun­ge, so kann­ste doch nicht par­ken! Ich se­he mich nach hin­ten um­. Stras­se frei, tre­te aufs Gas, nichts. Die Lich­ter kom­men näher. Schnell näher. Ei­ne Hu­pe wie ein Fan­fa­ren­stoss ertönt. Nicht so laut! Bin breit. Ich tre­te wie ein wil­der auf das Gas.

Nichts.

Der Mo­tor ist aus.

Der entgegenkommende Wa­gen kann recht­zei­tig brem­sen, der Fah­rer schreit Wort-Son­der­an­ge­bo­te aus dem Fen­ster. Billig, billig! Mir doch egal. Arsch­loch.          

Ich las­se den Mo­tor an, fah­re lang­sam und vor­sich­tig los. Die ABS-Kon­trolleuch­te am Ar­ma­tu­ren­brett geht an. Gleich ­da­nach ei­ne wei­te­re, ro­te. Müh­sam kann ich das Sym­bol ent­zif­fern. Die Bremsbeläge ha­ben wohl et­was ge­lit­ten, we­gen der Schrank­wand ge­ra­de.

 

Die nächste Am­pel ist rot. Ich bin ganz ru­hig, fah­re wie­der ganz ru­hig. Ich muss mich jetzt auf die El­be und das Le­ben­neh­men kon­zen­trie­ren. Nicht, das ich vor­her noch ei­nen Un­fall baue und drauf­ge­he.     

Während der Fahrt nest­le ich in der Ho­sen­ta­sche rum. Im­mer schön auf die Stras­se gucken. Nicht ab­len­ken las­sen. Ich fin­de das brau­ne klei­ne Fläschchen, in dem mal Pop­pers ge­we­sen war, frü­her. Jetzt dient es als Koks-Behälter. Da braucht man nicht im­mer die klei­nen lästigen Beu­tel­chen mit rum­schlep­pen, die im­mer so schnell al­le sind. In das Fläschchen ge­hen fün­fein­halb Gramm. Fast ei­ne Ta­ges­ra­tion. Ich öffne es mit der rech­ten Hand, Pul­ver rie­selt auf den Sitz. An der Am­pel hal­te ich an, schüt­te den Rest aus dem Fläschchen auf den Han­drücken. Es ist einigermaßen gut zer­klei­nert, ich ha­be ei­ne Koks­müh­le zu­hau­se. Aber es­ sind auch Stück­chen drin. Die Am­pel wird grün. Schei­sse. Ich hal­te den Han­drücken un­ter ein Na­sen­loch, mit dem Dau­men der an­de­ren Hand drücke ich das freie Loch zu, mit der Fin­ger­kup­pe des Zei­ge­fin­gers öffne ich das zur Ein­fuhr des Koks aus­er­ko­re­ne Na­sen­loch. Ich zie­he hoch. Drin. Ungefähr ein drei­vier­tel Gramm. Bröckchen, die nicht klein ge­nug wa­ren, fal­len wie­der aus der Na­se. Schnell Na­sen­loch zu­hal­ten und hoch­zie­hen. Baahhh. Su­per bit­ter. Aber drin. Jetzt bin ich wie­der ganz ru­hig. Ich wi­sche mir die Re­ste mit dem Han­drücken von der Na­sen­um­ge­bung, ir­gend­wo in dem Be­reich zwi­schen Au­ge und Kinn scheint al­les weiß zu sein. Der dun­kel­brau­ne Lang­haar-Tep­pich­bo­den vor dem Fah­rer­sitz ist auch weiß, wie ich im dif­fu­sen Licht der In­nen­be­leuch­tung er­ken­ne.

Schon wie­der ei­ne Am­pel, da, wo die Lan­ge Rei­he mt einer Linksbiegung in die Kir­chen­al­lee über­geht.          

Auch rot. Hier muss ich rechts ab­bie­gen. Will ja zur El­be, Le­ben neh­men. Zwei­spu­rig, hier vor der Am­pel. Ich ord­ne mich rechts ein, blin­ke ar­tig. Bloß nicht auf­fal­len, sonst wer­de ich womöglich vor­her noch ver­haf­tet.            

Die Wa­gen­fen­ster sind al­le of­fen. Ein Mer­ser-Cou­pe sieht schön aus, wenn die Fen­ster of­fen sind. Kei­ne störenden Rah­men da­zwi­schen.

 

Es ist ei­ne war­me Nacht, Au­gust.        

Ne­ben mir, auf der Ge­ra­de­aus-Spur hält ein weißer Klein­wa­gen. Auch die Fen­ster auf. Sieht aber nicht so schön aus. Es sind drei jung­sche Ty­pen drin. Sie se­hen zu mir rü­ber. Ei­ner lacht. Sie un­ter­hal­ten sich. Jetzt la­chen al­le.          

Ich gucke weg, gucke wie­der hin.       

La­chen im­mer noch.    

Über mich et­wa?         

„Äähh, Al­ter, Pro­blem oder was?“ fra­ge ich dro­hend rü­ber.    

Er­schrocken guckt der Bei­fah­rer zu mir her. Viel­leicht ha­ben sie doch gar nicht über mich ge­lacht? Wa­rum auch? Viel­leicht doch? Der Fah­rer sagt laut ir­gend­was in mei­ne Rich­tung, aber ich ver­ste­he es nicht.    

„Al­ter, pass mal auf, wenn Du ein Pro­blem hast, können wir das jetzt gleich re­geln...!“ ru­fe ich.          

Ich bin eins­sech­sun­dacht­zig groß, wie­ge zu der Zeit viel­leicht noch ge­ra­de zwei­und­sieb­zig Ki­lo und ken­ne die Fi­gur ei­nes Bo­dy­bu­il­ders we­ni­ger von mei­nem Bild im Spie­gel als mehr aus dem Fern­se­hen. Ich hab mich noch nie ernst­haft ge­hau­en.           

Jetzt knal­le ich den Au­to­ma­tik-Wähl­he­bel auf „P“ und sprin­ge aus dem Au­to: 

„Komm her Du Wich­ser!“       

Das ha­be ich auch nicht zu­hau­se bei mei­nen El­tern ge­lernt.      

Die Fah­rer­tür des Klein­wa­gens geht auch auf. Der Wich­ser kommt her. Er ist ungefähr dop­pelt so breit wie ich. Ich zu­rück ins Au­to, mit der Hand grei­fe nach der Pi­ra­te-Le­der-Rei­se­ta­sche, tau­send Mark, die ne­ben mir auf dem Bei­fah­rer­sitz liegt. So­fort krie­ge ich den Re­vol­ver zu fas­sen. Ich ha­be ihn in der Hand, ehe der Typ um sein Au­to rum ist.

 

Der Hahn klickt.

Me­tal­lisch.

 

Ei­nen ganz klei­nen Mo­ment lang ist es to­ten­still. Dann schreit der Typ ir­gend­was zu den an­de­ren, dreht sich auf dem Ab­satz he­rum. Mein Blick hängt in die­sem Se­kun­den­bruch­teil fel­sen­fest auf dem ge­spann­ten Ab­zugs­hahn des Zwei­und­zwan­zi­gers. Der Zei­ge­fin­ger mei­ner rech­ten Hand be­kommt vom Ge­hirn ir­gend­ein un­sin­ni­ges, wirk­lich nicht ge­woll­tes Signal. Er­ ver­krampft sich zur Han­din­nen­flä­che hin.

Von ir­gend­wo­her, von den Häu­ser­wän­den rings­um höre ich ein schnell zu­ mir zu­rück­kom­men­des Geräusch. Ich neh­me es­ wie in Slow-Mo­tion wahr:

 

P-ä-ä-ä-n-n-n-g-g-gh!

 

Es­ ist mucks­mäu­schen­still auf der Kreu­zung.

Durch mein Gehirn tobt das Echo des Knalls.

Nur un­ter­be­wusst neh­me ich wahr, wie der Wich­ser ins Au­to springt und mit quiet­schen­den Rei­fen über die ro­te Am­pel da­von­jagt, die Fah­rer­tür von sei­nem Wa­gen ist noch nicht ganz zu.

 

Es ist Nacht, weit nach Mit­ter­nacht.    

Es ist warm. Au­gust. Ham­burg-St. Ge­org.      

Ich ste­he mit ei­nem Fuß auf der Stras­se, mit dem an­de­ren im Au­to, in der of­fe­nen Tür. Der Mo­tor säuselt lei­se, kaum hörbar vor sich hin. Mer­ce­des.           

Die Stras­se ist men­schen- und au­to­leer.          

Die Am­pel auf mei­ner Fahr­spur wird grün.

Ich fah­re nicht.            

Ich kann nicht.

Ich ste­he mit­ten auf der Stras­se, las­se den Re­vol­ver, den ich mit bei­den Händen hal­te, lang­sam, am aus­ge­streck­ten Arm sin­ken.    

Mir zit­tern die Knie.    

Ich muss mich auf den Sitz set­zen.

 

Ich hätte ge­ra­de bei­na­he in­ Pa­ra­no­ia ei­nen Men­schen er­schos­sen.

Oh­ne Grund.

Weil er sich amü­siert hat­te.

Über was auch im­mer.

Viel­leicht auch über mich.

Vielleicht auch nicht.

 

In der Stil­le summt wie­der das Au­to­te­le­fon.

 

 

Kon­ju war ein­mal mit Nicki zu­sam­men.  

Und Nicki hat­te in ih­rer al­ten Hei­mat bei Ro­stock ei­nen Ty­pen ge­habt, mit dem sie mal zu­sam­men war. Vor Kon­ju. Der war wohl so ein klei­ner Möch­te­gern-Zu­häl­ter, kei­ner von Rang und Na­men je­den­falls. Und im­mer wenn Nicki in ih­rer Hei­mat zu Be­such war, hat sie Kon­ju mit dem Ty­pen be­tro­gen. Der hat­te auch manch­mal in Ham­burg zu tun und hat­te Nicki dort im­mer auf­ge­lau­ert. Kon­ju war schlau, er ist ir­gend­wann mal dahinter gekommen, da­durch, dass Nicki sich ver­plap­pert hat­te. Er war völ­lig fer­tig, der Ar­me. Er hat­te die­ses Mäd­chen, dem ich da­vor mal für ei­ne ein­zi­ge Lie­bes­nacht elf Mill be­zahlt hat­te, wirk­lich ge­liebt. Auf sei­ne - mak­ke­do­ni­sche - Art; er woll­te ei­ne treue Frau, die für ihn sorg­te und nur für ihn da war. Das war Nicki lei­der nicht.        

Ein­mal war er ihr nach­ge­schli­chen, als sie sich in Ham­burg heim­lich mit dem Ty­pen ge­trof­fen hat­te, hat­te aber nicht ein­ge­grif­fen, son­dern nur Be­wei­se ge­sam­melt. Da­mit war er dann zu mir ge­kom­men.

„Dick’rr, mus­stess Du mir mal hel­fen, Schei­sse, pitsch­ka te ma­tria! Die­sess al­te Schlam­pe, dass! Be­triegt mich mit die­sess Arsch­loch aus Ro­stock. Habb ich ge­wusst, doch!“        

Und er er­zählt mir von sei­nen Er­leb­nis­sen. Ich ha­be Nicki auch nie so rich­tig ver­traut, aber ich kann sol­che klei­nen Be­trü­ge­reien nach­se­hen, ich war das ja von Ines mehr als ge­wöhnt - im Ge­gen­satz zu Kon­ju. Er war wü­tend, und wur­de immer wü­ten­der, je mehr er mir da­von er­zähl­te:         

„Ab‚rr Dick’rr! Werrd ich zei­gen dies­ses Schlam­pe. Knal­le ich abb, dass!“  Er fuch­tel­te da­bei mit dem Colt-Au­to­ma­tik rum, das war noch vor sei­ner Ver­haf­tung. „Ich hab­be gut­ess Plann!“ sag­te er und un­ter­brei­te­te mir, was er vor­ hat­te. Wir soll­ten sie zu­sam­men ab­ho­len, un­ter dem Vor­wand, mit ihr es­sen ge­hen zu wol­len.

 

Es war dun­kel. Wir lu­den sie ein, sie saß hin­ten im Mer­ser. Kon­ju rechts, ich bin ge­fah­ren. Kon­ju hat mir die­sen Platz, an dem ich heu­te Nacht schla­fen woll­te, da­mals ge­zeigt. Statt zum an­ge­ge­be­nen Re­stau­rant fuhr ich auf die Au­to­bahn. Ich merk­te, dass Nicki un­ru­hig wur­de. Kon­ju be­gann, Nicki mit sei­nen Er­mitt­lun­gen zu kon­fron­tie­ren. Zuerst nett, lä­chelnd, al­les ein we­nig ins Spöt­ti­sche zie­hend.        

„Sagg mal, Nicki, has­stest Du ei­gent­lich noch Kon­takt mit die­sess Typ, wie heisst noch, weisst Du’ss schon, aus Ro­stock?“ Sein Fra­gen wur­den aber schär­fer, boh­ren­der, dro­hen­der, als wir in den ein­sa­men Wald­weg am Nien­dor­fer Ge­he­ge ein­bo­gen. Ich bog von der be­fe­stig­ten Stras­se da­mals nach rechts ab, auf den klei­nen Weg, bis hier­her, vor das Git­ter­tor, hin­ter dem sich das Wasserwerk -  eigentlich mehr ei­n Brun­nen mit Pumpe - der Stadt­wer­ke be­fin­det. Das Ge­biet ist men­schen­leer, war es auch da­mals, nachts. Nur in der Fer­ne hörst Du das Rau­schen der Au­tos auf der Au­to­bahn. Ab und zu mal den dump­fen Lärm ei­nes auf­stei­gen­den oder lan­den­den Flug­zeugs vom na­hen Flug­ha­fen. Es war kühl in je­ner Nacht im Früh­jahr.

Ich stell­te den Mo­tor ab und mach­te das Licht aus.

Ich stieg aus. Das hat­ten wir so ver­ab­re­det, Kon­ju und ich. Er blieb sit­zen, zu­sam­men mit Nicki. Wäh­rend ich aus­stieg, merk­te ich, wie er die Au­to­ma­tik aus der Jacken­ta­sche hol­te. Ich ließ die Tür zu­klap­pen und ging lang­sam zu­rück bis zur dem klei­nen Teer­weg, über den wir ge­kom­men wa­ren. Ich hör­te manch­mal dump­fe Stim­men aus dem Au­to, wenn ei­ner der bei­den lau­ter sprach, spä­ter schrie. Ich hör­te, dass er sie schlug, hör­te sie wim­mern. Mei­ne Auf­ga­be war es nur, auf­zu­pas­sen, das sich nie­mand nä­her­te. Ich rauch­te ei­ne Zi­ga­ret­te, zog da­nach ei­ne Li­ne vom Han­drücken. Wenn Kon­ju was von mir woll­te, war er im­mer spen­da­bel. Nach eini­ger Zeit wur­den sie Stim­men lau­ter. Kon­ju hat­te wohl das Fen­ster auf­ge­macht, um mich an dem Ge­spräch teil­neh­men zu las­sen, wie ich zuerst dach­te. Dann aber schwol­len die Stim­men an, ich hör­te ihn, dann sie - krei­schend, dann wie­der ihn.

 

Dann - ei­n schril­ler, dump­fer Knall, ver­bun­den mit ei­nem kur­zen Pfiff.    

Sie schrie wie am Spieß. Ich fuhr rum, stock­te ei­nen ganz kur­zen Mo­ment und rann­te dann zum Wa­gen. Nicki lag zu­sam­men­ge­sun­ken auf der Rück­bank im Dun­keln des Wa­gens und wim­mer­te.     

„Al­ter, was...?“ schrie ich ent­setzt Kon­ju an, riss die Leh­ne des Fah­rer­sit­zes vor und woll­te mich über Nicki beu­gen.     

„He, Dick‚rr, bleib mal rru­hig, ganz rru­hig,“ hör­te ich Kon­ju be­schwich­ti­gend sa­gen. „Sie hat nix anderss verdient, die Fotze! Will mich betriegen, pah!“ sagte er abfällig. Ich zog erschrocken und panisch meinen Oberkörper aus dem Auto, mein Kopf knallte an den Dachbalken über der Tür.

Konju kam ums Au­to rum zu mir, der ich im­mer noch wie ge­lähmt in der Tür stand. Er nahm mich bei­sei­te und raun­te mir lei­se ins Ohr:  

„Dick’rr,“ und in seinem Gesicht war wieder dieses breite, überlegene Grinsen zu sehen, „… aberr werd ich doch nixx in Knast ge­hen für dass al­te Schlam­pe, dass! Habb ich biss­chen Po­li­tik ge­macht, biss­chen Schreien, biss­chen ge­hau­en - nur biss­chen Dick’rr! - und biss­chen zu Fen­ster rrauss ge­bal­lert! Nix pas­siert, Dick’rr. Wa­rum meinsst Du, habb ich Fen­ster auf­ge­macht? Woll­te doch nich neu­ess Schei­be kau­fen, ha, ha! Iss sischerlisch teuer für Merser, hahaha!“

Er klopft mir, dem lang­sam die Far­be wie­der ins Ge­sicht zu­rück­kehrt, auf die Schul­ter.

„Komm, las­ses mal fah­ren weg hierr, iss bes­ser, nach­her komm Schmie­re noch, weil habb ich Vögel­chen auss Baum ab­ge­schos­sen oder so was!“ Er­ lacht wieder. Wir ge­hen zu­rück zum Wa­gen.            

„Musst Du’ss ma­chen rrich­tig wie Zu­häl­ter, Dick’rr, pitsch­ka te ma­tria, sonsst lernt Schlam­pe dass nie!“

Nicki lag die gan­ze Zeit der Rück­fahrt auf dem Sitz hin­ter uns und schluchz­te. Sie tat mir leid, wirk­lich. Wä­re Kon­ju jetzt nicht da­ge­we­sen, hät­te ich sie in den Arm ge­nom­men. Aber er war da. Und ich muss­te jetzt ein Mann sein.

Ein rich­ti­ger Zu­häl­ter. Wie Kon­ju. Pitschka te matria!

 

 

 

Penner-Junkie

 

Fast zwei Mo­na­te ha­be ich im Au­to ge­lebt.

Es war warm, Spät­som­mer, da kann­ste draußen schla­fen. Ich ha­be mir im­mer ei­nen ein­sa­men Feld­weg aus­ge­sucht in Ham­burg-Nord, meist im Nien­dor­fer Ge­he­ge oder auch mal in Fuhls­büt­tel. Hier ist viel Gegend, im Hamburger Norden, und ich wollte nicht einem Bauern oder Förster auffallen, der mich vielleicht öfters an der selben Stelle stehen sah. Oft ha­be ich gan­ze Ta­ge hier draußen ver­bracht, nachts we­nig ge­schla­fen, weil es spät still wird und früh laut, am Ran­de der Großstadt. Die Ein­nah­me von Ko­kain in nun schon klei­ner wer­den­den Men­gen tut im­mer­hin noch ihr Übri­ges und ist nicht grad schlaf­för­dernd. Mor­gens, wenn ich wach wer­de, hän­ge ich so lan­ge rum, sit­ze im­ Au­to und hö­re Ra­dio, oder ich mach den UKW-Scan­ner an und be­lau­sche die Bul­len, bis ich den Dicken an­ru­fen kann. Er hilft mir im­mer, aber es wird zu­neh­mend schwie­ri­ger. Er will auch mal Koh­le se­hen, mitt­ler­wei­le kriegt er fast neun­zig Mill von mir. Ich fah­re meist mit­tags oder nach­mit­tags zu ihm, wir sit­zen in der Kü­che und quat­schen oder fah­ren „zu Ty­pen, was weg­brin­gen“. Er hat mir zig­mal an­ge­bo­ten, bei ihm zu schla­fen, bei sei­nem Bru­der, wo er auch wohnt. Aber das will ich nicht. Ich will nie lä­stig fal­len. Ich ba­de ge­le­gent­lich dort. Und ha­be Hun­ger. Im­mer. Freue mich, wenn’s bei Kon­ju’s Bru­der was zu es­sen gibt. Manch­mal schla­ge ich ver­le­gen aus.            

An­bie­ten tun sie im­mer.

Sie sind gu­te Kum­pels, wirk­lich.

Und sehr gast­freund­lich.

 

Die­se Nacht kann ich be­son­ders schwer ein­schla­fen. Ich ste­he wieder im Nien­dor­fer Ge­he­ge, bin bei Dun­kel­heit rück­wärts rein­ge­fah­ren in ei­ne klei­ne Lich­tung, die vom Feld­weg ab­geht. Ir­gend­wie war es mo­ra­stig dort, hof­fent­lich kom­me ich da mor­gen früh wie­der raus. Aber das seh’ ich mir mor­gen an, heu­te ist die Na­se mal wie­der dicht, da kann man Stress am be­sten ver­mei­den. Ich decke mich zu, mit al­lem was ich ha­be.

Schicht­wei­se. Es wird lang­sam kalt nachts.      

Erst zie­he ich ei­nen dicken Pul­li an, fal­te Hand­tü­cher zu­sam­men und klem­me sie zwi­schen Sitz­lehne und Kopf­stüt­ze des Fah­rer­sit­zes ein - als Nacken­rol­le. Der gan­ze Kram, der jetzt noch auf mei­nen Na­men hört, ist ja im Kof­fer­raum. Ich bin ein mo­der­ner Pen­ner-Jun­kie ge­wor­den, mit 560ger-Mer­ser-Coupe und Breitling. Ich schla­fe un­ru­hig ein, träu­me Blöd­sinn - Kok­sträu­me.

Nachts wa­che ich auf. Es ist kalt. Das Wa­gen­fen­ster, das ich ei­nen Spalt weit of­fen ge­las­sen ha­be, ma­che ich bes­ser zu. Ich drücke auf den Fen­ster­he­ber, das Fen­ster geht lang­sam zu, ganz lang­sam, die In­nen­be­leuch­tung wird da­bei dunk­ler. Oh Gott, bloß kei­ne lee­re Bat­te­rie hier draußen in der Wildnis, bit­te! Auf der Han­dy- Aufladekar­te ist nix mehr drauf, ich kann nicht mal je­man­den an­ru­fen. Ich ho­le noch ein paar große Hand­tü­cher aus dem Kof­fer­raum, decke mich da­mit zu, so gut es eben geht. Noch ein paar Mal wa­che ich auf, decke mich wei­ter zu, frie­re. Die Stand­hei­zung kann ich nicht an­ma­chen, dann ist mor­gen früh die Bat­te­rie end­gül­tig leer. Ich neh­me noch ei­nen Schluck Stil­les Was­ser aus der Fla­sche, dann ist sie leer. Schei­sse, mor­gen muss ich den Dicken wie­der nach Koh­le fra­gen. Mir ist das ein­fach un­an­ge­nehm. Weil ich weiß, er wird’s nie wie­der­krie­gen. Wo­von denn? Trotz­dem ver­spre­che ich al­les. Ich le­ge ihm im­mer wie­der ir­gend­wel­che Pa­pie­re vom Fi­nanz­amt vor oder von ei­nem Rechts­an­walt, die beurkunden, dass ich noch jede Menge Geld ­be­kom­me. Es dauert eben noch ein wenig, wie die unterstrichenen Daten in diesen Papieren ausweisen.  Er kann sie doch nicht le­sen, diese Fälschungen, bei denen ich mir Mü­he ge­ge­ben ha­be, sie or­dent­lich und so ori­gi­nal­ge­treu wie mög­lich auf dem Com­pu­ter zu nachzuma­chen.

‚Mei­ne Mut­ter ha­t mir noch ei­ne Ei­gen­tums­woh­nung in Köln vererbt’, ist mir dann noch ein­ge­fal­len, ‚...die ge­hört ihr mit ei­ner Freun­din zu­sam­men, ha­be ich erst jetzt er­fah­ren, die wird dem­nächst ver­kauft, bringt mir dann auch wie­der Hun­dert­zwan­zig­tau­send.’           

Ich ver­spre­che und be­wei­se so gut, dass er fest dar­an glaubt, und schon Plä­ne macht, was ich oder wir, wenn ich will, mit dem Geld ma­chen wer­den. In Ju­go­sla­wien. Bes­ser ge­sagt in Mak­ke­do­nia. In sei­ner Hei­mat, in die wir dann wol­len. Er – ich wollte dort nie wirklich hin...

 

Als die Son­ne auf­geht und die wär­men­den Strah­len durch die Wind­schutz­schei­be schickt, wa­che ich kurz auf, schla­fe wie­der ein. Jetzt wird es schön warm.

 

Ge­gen sie­ben­uhr­dreissig wer­de ich durch lau­tes Klop­fen ans Au­to jäh ge­weckt.

Au­gen auf, ich er­ken­nen nichts, Kon­takt­lin­sen sind raus, nach der Bril­le ta­sten.           

Ich er­ken­nen zwei Fi­gu­ren, ein Au­to steht vor mei­nem.           

Als ich die Bril­le end­lich auf­ha­be, se­he ich klar - die Schmie­re!           

Und ich mit ge­fälsch­ten Au­to-Pa­pie­ren und Phan­ta­sie-Num­mern­schil­dern, weil ich die Versicherung seit ewigen Zeiten ncht bezahlt habe, nicht habe bezahlen können, von welchem Geld denn auch.

 

„Moin, moin, al­les klar bei Ih­nen?“ der Schmier­mi­chel klopft freund­lich an die Schei­be. „Ma­chen Se mal auf, mal se­hen ob Se noch le­ben.“           

Ich rei­be mir den Schlaf aus den Au­gen, ma­che die Tür auf. 

„Moin, jooh al­les klar bei mir soweit, was’n los?“       

„Ja, ein be­sorg­ter Mit­bür­ger hat uns an­ge­ru­fen, er hat das Au­to ge­se­hen, ver­such­te sie zu wecken und es ist nichts pas­siert. Er rief uns an und sag­te, im Wald steht ein Wa­gen mit ei­ner Lei­che drin. Aber Sie se­hen ja noch recht le­ben­dig aus! Dann mal die Wa­gen­pa­pie­re und den Füh­rer­schein bit­te. Ist das Ihr Wa­gen? Wie­so hat der ei­ne nie­der­län­di­sche Num­mer?“           

„Ja, mei­ner, ich woh­ne in Hol­land, ge­stern ein biss­chen viel ge­feiert und woll­te erst mal schla­fen“, log ich.       

Der an­de­re Be­am­te geht um den Wa­gen rum, kon­trol­liert die Kenn­zei­chen mit wich­ti­gen Blick und gibt mir die Pa­pie­re zu­rück.   

„Na, dann gu­te Wei­ter­fahrt, noch. Auf Wie­der­se­hen!“

 

Noch halb ver­schla­fen, halb vor Schreck ge­lähmt kom­me ich lang­sam zu mir. Sie sind weg! Nichts pas­siert! Mal wie­der Glück ge­habt.Glück mit Geld hatte ich noch nier. Aber Glück im Leben. Glück mit Situationen wie diesen. Ganz oft.

Wenn ich in der Stadt war - da­bei war für mich der Kiez die Stadt - und ich kei­nen Sprit mehr hat­te, muss­te es auch der Ha­fen zum Über­nach­ten tun.

Rich­tung Elb­strand hat­te ich ei­nen klei­nen Fleck ent­deckt, auf dem hö­her ge­le­gen öf­ters Wohn­cam­per stan­den. Es war di­rekt an der El­be, ne­ben mir Ha­fen­schlep­per und an­de­re Käh­ne.

Es riecht nach Die­sel, ei­gent­lich mehr nach Pe­tro­leum, wenn Du den Ge­ruchs­un­ter­schied kennst. Auf dem Elb­was­ser schwim­men öli­ge Flecken der Kut­ter, ein biss­chen Fisch­ge­ruch be­mer­ke ich auch. Es ist kalt in jener Nacht, ei­gent­lich kei­ne Zeit mehr, um im Au­to zu schla­fen. Wie­der hül­le ich mich in al­les, was zu fin­den ist. Es ist En­de Au­gust, es regnet und ist bit­ter­kalt. Mehr­mals in der Nacht schal­te ich die Stand­hei­zung ein, die im­mer nur für ei­ne Stun­de läuft. Ich wa­che auf, ein trüb-neb­li­ger Mor­gen. Kein Koks mehr da. Al­le. Geld so­wie­so nicht. Muss zu Kon­ju, hilft al­les nichts. Ich ge­he ums Au­to rum, ma­che ein paar Knie­beu­gen um den Kreis­lauf an­zu­kur­beln und die vom Schlaf und der krie­chen­den Käl­te lah­men Glie­der zu ak­ti­vie­ren. Ne­ben mir, im Ha­fen­becken, tu­tet ein Schlep­per, der sich zwi­schen die an­de­ren an der Kaimauer drän­gelt. Le­ben er­wacht. Ich will los, Hei­zung an­ma­chen, es ist wirk­lich kalt und feucht hier draußen. Ich dre­he den Schlüs­sel im Zünd­schloss rum. Der au­to­ma­ti­sche Gurt­brin­ger bringt lei­se sum­mend den Gurt vom B-Holm hin­ter der Wa­gen­tür in mei­ne Rich­tung, stoppt mit­ten auf sei­nem Weg. Nanu? Dre­he den Schlüs­sel noch mal, jetzt macht der Gurt­brin­ger gar nichts mehr. Im Armaturenbrett leuch­ten mü­de ein paar Lämp­chen und verlöschen, als ich den Schlüs­sel in Start-Po­si­tion dre­he. Die Bat­te­rie ist end­gül­tig leer. Ich könn­te Kon­ju an­ru­fen, aber ich will nicht, dass er sieht, das ich hier draußen schla­fe. Ich ha­be ihm ge­sagt, ich woh­ne die näch­sten paar Ta­ge im Ho­tel.

Ich ha­be noch zwan­zig Mücken in der Ta­sche, da­von woll­te ich ei­gent­lich was zu es­sen kau­fen. Und zu trin­ken. Ich ha­be Durst.

Ich ru­fe ein Ta­xi an, mir Start­hil­fe zu ge­ben. Und futsch sind die zwan­zig Mark.

So geht es nicht wei­ter.

Ich te­le­fo­nie­re mit Ela. „Kann ich bei Dir schla­fen?“ Ich kann.             

‚Komm erst­mal her,’sagt sie. Ich fah­re hin. Sie hat mir schon oft an­ge­bo­ten, bei ihr zu schla­fen. Ich ha­be im­mer aus­ge­schla­gen. Ich will doch nie­mand lä­stig fal­len. Ich bin wie mei­ne Mut­ter.

Ela wohnt im Kran­ken­haus. Lu­stig ei­gent­lich. Als ich das er­ste mal hin­fuhr, konn­te ich mir nichts dar­un­ter vor­stel­len.

Elas Woh­nung - Es ge­schah am 2.9.1999

Es ist ein Kran­ken­haus­kom­plex in Buch­holz in der Nordheide, so zwan­zig Ki­lo­me­ter von Hamburg weg, Rich­tung Bre­men. Auf dem Komplex stehen auch Wohnhäuser mit klei­nen Ap­par­te­ments für Schwe­stern und Ärz­te.

Das Haus in dem Ela wohnt, liegt in einer Art Park, der zum Krankenhaus gehört, an ei­nem Hang, es ist ganz ru­hig hier, wie im Ur­laub. So­ kommt es­ mir im­mer vor, wenn ich dort bin, gar nicht wie in ei­nem Kran­ken­haus.

Ich bin gern bei Ela.

Ich füh­le mich ge­bor­gen, um­sorgt und ver­stan­den bei ihr.        

Sie sagt mir ih­re Mei­nung, auch wenn das nicht im­mer mei­ne ist. Und das fin­de ich gut so. Das lie­be und schät­ze ich an ihr.

 

Im Haus geht, wenn man durch die Haustür gekommen ist, in das zwei­te Kel­ler­ge­schoss, al­so nach un­ten, und wenn man in der Woh­nung ist, ist man trotz­dem in der er­sten Eta­ge und hat ei­nen Bal­kon. Merk­wür­dig. Ei­ne wun­der­sa­me Woh­nung. Das er­zäh­le ich je­dem, der Ela kennt.

Ela hat an­dert­halb Zim­mer, ein Schlaf­zim­mer  und ein Wohn­zim­mer, wo­bei das Schlaf­zim­mer das Hal­be ist, ob­wohl es recht groß ist. Das Wohn­zim­mer ist ganz in blau und schwarz ein­ge­rich­tet, sehr lie­be­voll, eben Ela. Sie packt ge­ra­de ih­re Sa­chen, als ich kom­me.

Ela zieht aus!   

„Du kannst hier woh­nen, ganz al­lein, dann hast Du Dei­ne Ru­he.“ Aber das will ich nicht! Sie soll nicht we­gen mir aus­zie­hen!

Von Ni­co, ih­rem neu­en Freund, hat sie schon öf­ters er­zählt. Jetzt sagt sie mir, sie will erst mal pro­be­hal­ber zu ihm zie­hen und spä­ter wohl die Woh­nung auf­ge­ben und ganz bei Ni­co wohnen. Sie tut und sagt im­mer al­les mög­li­che, um es mir leicht zu ma­chen, weil sie weiß, dass mir die Si­tu­a­tion un­an­ge­nehm ist.

 

Ich ha­be al­les, was ich brau­che. Ela hat mir einen vollen Kühlschrank überlassen. „Das ist alles sowieso noch da, nimm dir, was du magst!“ hatte sie gesagt. Glaube ich nicht, Ela! Du hast extra eingekauft für mich. Weil vieles, was jetzt im Kühlschrank ist, magst du gar nicht. Aber ich. Und dass wusstest du. Aber es ist gut, denn ich ha­be kei­nen Pfen­nig. „Geld kann ich Dir nicht ge­ben, ich hab sel­ber nicht viel, aber Du kannst al­les es­sen, was Du fin­dest, wird doch nur schlecht sonst.“            

Ich küs­se sie zum Ab­schied. Wir küs­sen uns im­mer, auf den Mund, schmu­sen viel mit­ein­an­der und ku­scheln. Sie ist ein ide­a­ler Mensch, der ide­al­ste, glau­be ich, den ich je kennen gelernt ha­be.

 

Ela geht und ich bin al­lein.       

Es ist schönes Wet­ter wäh­rend die­ser Zeit, die letz­ten war­men Ta­ge im Spät­som­mer.

Ich bin al­lein, kann sel­ten nach Ham­burg fah­ren, weil ich kein Geld ha­be. Ich be­gin­ne, Zi­ga­ret­ten­stummel zu sam­meln. Auch die aus dem Au­to­a­scher. Aus Elas riesiger Spar-Fla­sche, die wohl mal eine Drei-Liter-Durjardin-Flasche gewesen sein musste, klaue ich schwe­ren Her­zens ein paar Gro­schen. Sorry, Ela! Ich ge­he zum Su­per­markt gleich beim Kran­ken­haus. Ich kau­fe ir­gend was Bil­li­ges, was satt macht und ein paar Blätt­chen zum Zi­ga­ret­ten­dre­hen, aus den Kip­pen.

Es geht. Auch mit ganz wenig Geld kann man überleben.

Ta­ge oh­ne Koks und richtiges Es­sen.  

Was­ser kann man trin­ken, nicht nur zum Ab­spü­len oder fürs Klo ge­brau­chen. Das hat mein Va­ter mir schon früh ge­lehrt. Ver­dur­sten tue ich al­so nicht.

Und die Zi­ga­ret­ten­stum­mel ge­ben noch ein paar einigermaßen or­dent­li­che Zi­ga­ret­ten. Wenn auch mit et­was ek­li­gem Bei­ge­schmack, da sich in den letz­ten Re­sten der ein­sti­gen Zi­ga­ret­ten Spei­chel, kal­ter Rauch und Asche vom Aus­drücken sam­meln. Das rauchst Du dann mit. Weil Du nichts an­ders hast. Nichts hast. Nichts mehr.

 

Ich bin stark de­pres­siv. Kaum mehr Koks. Kokain macht nicht kör­per­lich ab­hän­gig. Nur see­lisch. Stark see­lisch. Oh­ne Geld kann ich nicht zu­ Kon­ju fah­ren, um Koks zu­ be­sor­gen. Bis Hamburg sind es rund dreißig Kilometer. Er­ kann auch nicht her­kom­men. Es kommt auch sonst kei­ner her. Ich hän­ge tags­ü­ber vor dem Fern­se­her, ge­he auf dem Kran­ken­haus­ge­län­de spa­zie­ren. Ent­zug. Nachts heu­le ich. Will nicht mehr. Kann auch nicht mehr. Al­les, über das ich nach­den­ke und was mit Zu­kunft zu tun hat, macht kei­nen Sinn mehr. Al­les ist ver­lo­ren, weg, und selbst wenn ich in der La­ge wä­re, ir­gend­wo zu ar­bei­ten, wür­de al­les für die Schul­den bei Kon­ju drauf­ge­hen.

Es macht kei­nen Sinn mehr.

Ich tue es. Heu­te.

Heu­te Nacht.

 

Am zwo­ten neun­ten Neun­zehn­neu­nund­neun­zig nachts ge­gen drei­und­zwan­zig Uhr ho­le ich den Re­vol­ver aus mei­ner ed­len Pi­ra­te-Le­derrei­se­ta­sche, tau­send Mark.

Am Nach­mit­tag hat­te ich mir ei­nen Platz aus­ge­sucht, ganz in der Nä­he von Elas Haus, auf dem Kran­ken­haus­ge­län­de.

Es ist jetzt dun­kel draußen.      

Ich sit­ze still auf Elas So­fa, auf dem ich schla­fe, es­se, lie­ge und sit­ze. So sit­ze ich auch jetzt da. Ich la­de den Re­vol­ver. Ganz lang­sam.          

Ei­ne Kam­mer la­den, ei­ne Kam­mer leer las­sen, ei­ne Kam­mer la­den. Er hat sechs Kam­mern. Ich kann mir im­mer noch aus­su­chen, ob ich es auf die rus­si­sche Art ma­che oder ob ich gleich ei­ne vol­le Kam­mer neh­me.

Wäh­rend des La­dens heu­le ich.

Ich ha­be den gan­zen Tag ge­heult.        

Auch, als ich Ela den Ab­schieds­brief ge­schrie­ben ha­be.: ‚... Ver­kauft das Au­to, es ist al­les, was ich noch ha­be. ... Macht ei­ne Par­ty von dem Geld, mit „al­lem“ was da­zu­ge­hört, ei­ne, auf der al­le fröh­lich sind, so wie ich es am lieb­sten war...’

 

Ich heu­le auch jetzt, wenn ich dies schrei­be.

Ich sit­ze da und heu­le. Ich ha­be kei­ne Kraft mehr raus­zu­ge­hen, um Elas Pol­ster zu scho­nen. Ela wird’s ver­ste­hen. Sie will so­wie­so aus­zie­hen.         

Ei­gent­lich in­ter­es­siert mich das auch nicht mehr.

Es ist still.

Draußen zwit­schern noch die letz­ten Vögel der Sommers. Ich gehe in die Küche, unter der Spüle habe ich letztens Plastiktüten gesehen, wie man sie zum Einkaufen nimmt. Ich suche in dem Karton herum, finde ein Rolle mit blauen Abfallsäcken. Ich reiße bedächtig einen ab, dann noch einen. Die Rolle lege ich wieder sorgfältig in den Schrank, mache die Tür zu. Mir fällt auf, das noch Abwasch im Spülbecken steht. Wie in Slowmotion falte ich die beiden Plastiksäcke ordentlich zusammen und lege sie auf den Wohnzimmertisch. Ich gehe wieder in die Küche. Eben noch die drei Teller, die Tasse und das Glas abwaschen, und das Besteck, dass noch benutzt herumliegt. Ich kann Elas Wohnung doch nicht so unordentlich hinterlassen. Was sollen denn die Nachbarn denken…

Mit dem Abwaschlappen fege ich auch noch über den Tisch im Wohnzimmer, den vor der Couch.

Ich mache die Balkontür zu vom Wohnzimmer, lassen sie Rollos herunter, die von innen am Fenster hängen. Sie passen hübsch zu Elas Einrichtung, blau und schwarz.

Ich nehme die beiden ordentlich zusammengefaltete Plastiksäcke vom Tisch, breite sie auf der Couch aus. Einen auf der Lehne und einen darunter, auf dem Sitz. Die Couch steht in einer Ecke. Ich habe eine Rolle Klebefilm in der Küche gesehen. Die hole ich, und noch eine Plastiktüte aus dem Unterschrank der Spüle. Diese Tüte klebe ich an die Ecke, neben der die Couch steht, an die Wand. Im Film habe ich mal gesehen, dass es spritzt… 

Ich möchte nicht, dass Ela die Wohnung renovieren muss, mit meinen Überbleibseln an der Tapete. Mein Hemd ist nass, vom Hals abwärts bis hin zum Bauch. Nass vom ständigen Heulen. Ich habe sicherlich ein paar Liter Wasser verloren. Heulen kostet Kraft. Aber ich werde ruhiger dadurch. Ich lege mich auf die Couch, mit dem Kopf auf die zuvor säuberlich abgedeckte Armlehne.

Ich starre an die Decke. Endlos erscheinende Zeit vergeht wie im Fluge.

Ich nehme den Revolver in die Hand, drehe mit der anderen die Trommel.

‚Rrrrrrr…’ macht sie und bleibt irgendwo stehen.

Es knackt ein we­nig, als ich den Hahn nach hin­ten zie­he. Mit ei­nem me­tal­li­schen Klicken ra­stet er ein. Das sel­be me­tal­li­sche Klicken wie da­mals auf der Kreu­zung. Ich weiß nicht, ob die Kam­mer, über der der Hahn steht,  leer oder voll ist.    

End­lo­se Zeit spä­ter schie­be ich den Re­vol­ver in den Mund.

Das Me­tall fühlt sich hart und kalt an, am Gau­men. Ich rieche das Waffenöl, mit dem der Revolver leicht eingeschmiert ist. Das Öl schmecke ich auch af der Zunge.         

Ich heu­le, ver­su­che es zu un­ter­drücken.           

Aber es geht nicht.

Die Trä­nen schießen mir die Wan­gen hin­un­ter.

Ich kann sonst nie heu­len. Das letz­te Mal bei Mut­ters Tod. Aber auch oh­ne Trä­nen.

 

Es ist so schön hier, bei Ela.

Wa­rum muss­te denn al­les so kom­men. Ich ha­be im­mer ge­sagt: „...egal, wenn die Koh­le weg ist, knall’ ich mich ab“. Das hab’ ich mir ge­sagt.

Nie den an­de­ren. Und jetzt ist es so­weit. Jetzt ist die Koh­le weg.

Mein rechter Zeigefinger schiebt sich langsam, zitternd, durch den halbrunden Bügel, der den Abzug umgibt.

Mit geschlossenen Augen ziehe ich den Zeigefinger, der den Abzugshebel umschliesst, langsam, ganz langsam zur Handinnenfläche hin. Erst geht es ganz leicht, die ersten paar Millimeter. Dann spüre ich einen Widerstand. Der sogenannte Druckpunkt. Während ich den Abzug über diesen Punkt ziehe, reisse ich die Augen auf. Jetzt ist es zu spät! Kein Zurück mehr! Panisch versche ich, den Revolver aus dem Mund zu reissen, schneller, als der Hahn auf das Zündhütchen in der Patrone schlagen kann. Die Kimme auf dem Lauf schlägt hart gegen die oberen Schneidezähne, beim Versuch, das Ding aus dem Mund zu kriegen. Es klappt nicht. Das alles dauert den Bruchteil einer Sekunde. In Zeitlupe sehe ich, wie der Hahn richtung Trommel schnellt. Er schnellt nicht. Er braucht Stunden, um anzukommen.

Klick.

Ich bre­che heu­lend auf der Couch zu­sam­men, neh­me da­bei den Lauf wie­der aus dem Mund. Ich lie­ge im Dun­keln auf Elas Couch und heu­le. Jetzt ohne Tränen. Mir ist kalt, ich zit­te­re. Es kann auch der Schock gewesen sein. Das Entsetzen darüber, was ich gerade gemacht habe.

Spä­ter, ge­gen zwei Uhr mor­gens, kom­me ich einigermaßen zu mir.

Im­mer noch bin ich nicht si­cher, es nicht doch noch mal tun zu wol­len, als ich den Re­vol­ver weg­le­ge. Die lee­re Kam­mer war das Schick­sal. Es hat sich für mich und nicht ge­gen mich ent­schie­den.

Dies ist mein zwei­ter, zwei­fel­haf­ter Ge­burts­tag.           

Am zwo­ten neun­ten Neun­zehn­hun­dert­neu­nund­neun­zig. In Elas Woh­nung.

Ein neu­es Le­ben, das sich zu­nächst nicht großartig vom al­ten un­ter­schei­den wird. Ein neu­es Le­ben, das ich oh­ne Kraft be­gin­ne. Und mit Hun­ger.

 

Ich schicke Ela und Ul­la SMS’s per Han­dy, sie ar­bei­ten bei­de heu­te abend im Girlie’s. Ich schrei­be, was pas­siert ist. Sie schrei­ben zu­rück, sind be­sorgt. Spä­ter er­fah­re ich, das Ur­sel es al­len im La­den er­zählt hat, was ich nicht woll­te, aber es war gut so.

Noch viel spä­ter hat Hel­ge, der Kell­ner, mit mir dar­ü­ber ge­spro­chen. Hel­ge - wir konn­ten uns bei­de frü­her nicht lei­den.           

Und al­le ha­ben mit­ge­fühlt, wa­ren be­wegt.

Das hat­te ich nicht er­war­tet.

 

Ich ha­be wie­der ge­mailt, ‚...kommt bit­te vor­bei, und bringt Koks mit, fünf bis zehn Gramm. Ich will mei­nen neu­en Ge­burts­tag feiern, ich will wie­der le­ben.’   

Sie schrei­ben zu­rück, ‚... nein, kein Koks, wir kom­men nicht. Be­ru­hi­ge dich erst mal, mor­gen se­hen wir wei­ter.’

Ich ver­ste­he es nicht! Ein zwei­tes Mal will ich mir das Le­ben neh­men. Am glei­chen Ta­ge. Mei­ne be­sten Freun­de kom­men nicht!

Viel spä­ter er­fah­re ich, das sie feiern wa­ren. Bei Hel­ge.           

Mit vol­len Na­sen.        

Mei­ne be­sten Freun­de. Hät­te ich es da­mals doch noch ein­mal pro­bie­ren sol­len?

 

Es war der schlimm­ste Tag mei­nes Le­bens. So kurz nach dem schön­sten, dem mit Na­di­ne und Ines.

Ein Ge­burts­tag soll­te ei­gent­lich ein schöner Tag sein.

Am zwei­ten neun­ten in die­sem Jahr - mei­nem er­sten Ge­burts­tag - wer­de ich mir in al­ler Stil­le das er­ste Mal wie­der ein paar Gramm kau­fen und sie mir durch den Kopf ge­hen las­sen. Ich wer­de zu­rück­den­ken - an­ mei­nen Kum­mer und Schmerz, an­ den Hun­ger, den ich hat­te. Dar­an, dass mei­ne be­sten Freun­de nicht für mich da wa­ren.           

Im Ge­gen­teil - Par­ty ge­macht ha­ben. Und ich wer­de heu­len da­bei.

Und zie­hen.

 

 

­­­­­­­­­­­­­­­

Fonssie

 

Fons war in seinem ersten Leben mal Taxifahrer in Amsterdam gewesen. Wenn wir für die Firma irgendwohin fuhren, fuhr er meistens. Er hatte einen alten, verbeulten weissen Renault, der wenig gepflegt aber viel geliebt wurde. Fons pries während der Fahrten den Fahrkomfort, das Platzangebot und die bequemen Sitze des alten TX.

Um meine Ortskenntnis in Amsterdam zu fördern fragte er mich, wenn wir losfuhren immer: ”En - weet jij, hoe we daar naartoe komen?” – und -weisst Du wie wir da hin kommen? Ich beschrieb ihm die Strecke, die ich mir vorstellte oder gar kannte. Er fuhr immer anders. Durch winzige Seitenstrassen, über winzige Brücken, die die ein oder andere Gracht überspannten und von denen ich nicht mal gedacht hatte, dass sie für Autos zugelassen sind, geschweige denn, ich mich getraut hätte, mit dem Auto drüber zu fahren, weil sie entweder so schmal waren oder so instabil aussahen. Ehrlich gesagt hatte ich später beim Überfahren solcher Brücken auch schon mal das Schild gesehen, rund, mit weissem Grund und rot umrandet, das sein Auto abbildete – für Autos verboten! Diese Schleichwege dauerten meistens nur die Hälfte der Zeit, die ich für die von mir geplanten Routen gebraucht hätte.

 

In seinem vorherigen Beruf als Taxifahrer hatte sich Fons einen Haufen “Überlebensstratiegien”, wie er das nannte, angeeignet. So auch die Eigenschaft, während der Fahrt Zigaretten zu drehen. Denn er rauchte nur selbstgedrehte, “Shag”, wie man in Holland sagt.

 

Mit sechzig gehts über die schmale, kopfsteingepflasterte Strasse, einspurig, in der Mitte eine Gracht, auf der anderen Seite der Gracht die Gegenfahrbahn. Ganz Amsterdam ist durchzogen von diesen Grachten, die zweimal im Jahr mir speziellen Booten, auf denen eine Art grosser Rechen installiert ist, leergebaggert werden. Zum Vorschein kommen überwiegend Fahrräder, Einkaufswagen, Rollatoren und ab und zu mal eine Leiche.

 

Während Fons mir das erzählt, kommt mir der Film “Amsterdamned” vom holländischen Regisseur Dick Maas in den Sinn, wo ein von Gift verunstalteter Mann im Taucheranzug in den Grachten von Amsterdam sein Unwesen treibt und Menschen mordet.

 

Neben unserer schmalen Fahrspur, zur Gracht hin, parken Autos, wenn Du an der der Gracht zugewandten Seite dann nach dem Parken aus dem Auto steigst und nicht aufpasst, stolperst Du über die circa zwanzig Zentimeter hohe Reling, die verhindern soll, dass das Auto beim Parken in der Gracht landet, und fällst kopfüber in selbige. Passiert Touristen oft genug, wie man im holländischen Fernsehen sieht, wenn der Moderator wieder mal schmunzelnd über einen “Duitser”, einen Deutschen berichtet, der in der Dunkelheit bei eben diesem zuvor beschriebenen Manöver ein unfreiwilliges Bad genommen hat.

 

Alle dreihundert Meter kommt eine Auffahrt zu einer kleinen Brücke, die die Gracht überspannt, da steigt die kopfsteingepflasterte Strasse dann ziemlich an, um gleich nach der Auffahrt wieder abzufallen.

Fons bremst ruckartig vor dem Hindernis, rast aber immerhin noch mit vierzig Sachen darüber hinweg. Mein Gesäss hebt kurz vom Sitz ab und bewegt sich, zusammen mit dem Inhalt meines gerade beim original marrokanisch-holländischen Italiener befüllten Magens richtung Fahrzeughimmel, um kurz vor dem Crash mit selbigem sich wieder in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen. Das Essen bleibt gerade noch so drin.

 

Vor der nächsten Brücke denke ich, auf alles gefasst zu sein. Als Hintern und Magen gerade wieder einmal den Scheitelpunkt des Fluges glauben erreicht zu haben und ich mich instinktiv damit auseinandersetze, dass beide jetzt gleich zum Rückflug ansetzen werden, bekommt die nun als bekannt geglaubte Situation eine überraschende Wendung – Fons machte eine Vollbremsung, Arsch und Futterkammer wissen nun gerade nicht so genau, wohin und verharren eine Sekunde lang in der Schwebe, als Fons das Steuer ruckartig nach links reisst und Hintern inklusive Pizza im gerade ansetzenden Vorwärtsdrift nun ruckartig von der Fliehkraft nach rechts gerissen werden. Fons tritt aufs Gas um dem altersschwachen Renault die Sporen für seine –wie es scheint – letzte Reise zu geben und auf der schwächlichen Holzbrücke rasant beschleunigt. Ich sehe die Balustrade der Brücke, gegen die ich mich nicht mal als Fussgänger gelehnt hätte, auf die Motorhaube zurasen, als mein Allerwertester, gefolgt durch den Pizza-Brei, unsanft auf die vielgepriesenen Renault-Polster aufsetzen. Für einen Moment scheinen alle vier Räder des TX in der Luft zu schweben, als auch schon die andere Seite der zarten Brücke erreicht ist. Im Rückspiegel sehe ich noch das hölzerne Geländerchen der Brücke erzittern, als Fons nun das Steuer erneut nach links reisst, wieder Vollbremsung, denn diesmal parken die Autos auf der der Gracht abgewandten Seite, direkt an den Häusern. Der Aussenspiegel, den ich gerade noch im Blick hatte, schlägt mit einem lauten Knall gegen die rechte Beifahrerscheibe um gleich darauf wieder zurück zu federn. “Kut!!!” – Scheisse, entfährt es Fons. “Was parken die da auch so dämlich, sieht man ja gar nicht hinter der Brücke!’, schmimpft er und grinst zu mir rüber.

Nö, sieht man nicht, wenn man mit vierzig über ne Brücke heizt, die für Autos gesperrt ist….

 

Fons fährt nur mit einer, der rechten, Hand, wie mir jetzt auffällt. Die linke kramt in der Tasche seiner alten, etwas speckigen schwarzen Lederjacke und nestelt einen Beutel Shag heraus, die rechte Hand nun auch noch weg vom Lenker, denn er muss schalten. Das Auto lenkt nun sein treuer Beifahrer – das rechte Knie! Mit der linken Hand fummelt er die Blättchen aus dem Shag-Beutel, zieht gekonnt eines heraus und hält es zwischen Daumen und Zeigefinger, den Beutel eingeklemmt zwischen kleinem Finger und Handballen. Die rechte Hand lenkt Gott sei Dank nun wieder. Das Blättchen wandert über Zeigefinger, Mittelfinger nun zum Ringfinger, wo er es zwischen Ringfinger und kleinem Finger, der auf seiner Unterseite noch immer den Tabakbeutel hält, denn Mittelfinger und Daumen braucht er nun, um Tabak aus dem Beutel zu angeln, den er gleich darauf auf das über Ring- und Mittelfinger zurück wandernde Blättchen verteilt. Den Shag-Beutel immer noch eingeklemmt, rollt er mit den noch übrigen Fingern eine Zigartette, die so gleichmässig ist, dass sie aus dem Automaten hätte kommen können und leckt die Klebeseite des Blättchens an. Vollbremsung!, weil eine Gruppe von Radfahren den Weg kreuzt, um über eine Brücke, vor der ein Schild “Radfahrer verboten” steht, zu überqueren. “Kut!!!”. Während bei diesem Mannöver mein Oberkörper richtung Windschuztscheibe katapultiert wird, in der ich in diesem Moment zum ersten Mal einen grossen Sprung erkenne, den vielleicht ein Beifahrer-Vorgänger von mir verursacht haben könnte, klebt Fons die angeleckte Zigarette mit den Fingern der linken Hand zu. Der Beutel verschwindet wieder in der Jackentasche, und auf dem Rückweg bringen die Hände gleich ein Zippo mit, dass bereits brennt, als es aus der Tasche kommt.

 

Genüsslich zieht Fons einen kräftigen Zug aus der soeben unter abenteuerlichen Umständen gedrehten Zigarette. “We zijn d’r!” – Wir sind da, sagt er grinsend und parkt rückwärts in eine viel zu kleine Parklücke ein,  nicht ohne den Hintermann erheblich anzustossen. “Nen Renault parkt man nicht, den stellt man ab”, sagt Fons.

 

Ich habe das mit dem einhändigen Drehen oft genug versucht, zum Glück ist nie ein anderer Verkehrsteilnehmer dabei ernsthaft zu Schaden gekommen, auch wenn ich meine Fahrtüchtigkeit in diesen Momenten nicht als hundertprozentig bezeichnen kann. Geschafft habe ich es nie.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 





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